Zementmischer versus Komposterde: Wie nutzen wir die KI-Debatte in der Bildung?

Seit der KI-Chatbot ChatGPT vor einem guten Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, herrscht in der Pädagogik sehr viel Betriebsamkeit. Es gibt Fortbildungen, Lernmaterialien, Handreichungen, Konferenzen, Barcamps und viele weitere Bildungsangebote zum Thema Künstliche Intelligenz (KI). Außerdem auch ganz viel Erkunden, Ausprobieren und Lernen. Das empfinde ich erst einmal als sehr positiv. Was mir dabei aber zunehmend fehlt, sind grundlegende Veränderungen in Richtung einer guten Bildung für alle. Somit besteht aus meiner Sicht die Gefahr, dass die KI-Debatte trotz sehr viel Betriebsamkeit die Existenz des bestehenden, veralteten Bildungssystems noch weiter zementiert. Mein Aufruf ist daher, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, sich mit anderen zu vernetzen und noch stärker als bisher für wirkliche Veränderungen einzutreten. Mir helfen dabei die Metaphern eines Zementmischers und von Komposterde:

Bei der Rotation eines Zementmischers entsteht eine klebrige Mischung, mit der Dinge zementiert und somit verfestigt werden. Während der Drehung des Zementmischers erkennt man oft nicht sofort, dass genau dies die Konsequenz sein wird. Es scheint etwas voranzugehen, denn das Gerät rotiert mit großer Geschwindigkeit und Lautstärke.

Beim Umschichten von Komposterde entsteht dagegen fruchtbarer Boden, aus dem Neues wachsen kann. Während die Erde umgeschichtet wird, weiß man noch nicht genau, was daraus entstehen wird. Man akzeptiert also eine große Offenheit und auch Ungewissheit.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir die durch KI ausgelöste Bewegung in der Bildung im Sinne eines Umschichtens von Komposterde nutzen würden. Leider erlebe ich sie aber überwiegend als Rotation eines Zementmischers. Denn an den Grundpfeilern des maroden Bildungssystems wird nicht gerüttelt. Stattdessen wird eher Klebstoff produziert, und es wird (oftmals sicher auch unbewusst) darauf hingearbeitet, dass das System in seiner bestehenden Form erhalten bleibt.

In den zahlreichen Fortbildungen zu KI spiegelt sich dies wider, indem es hauptsächlich um KI als Werkzeug geht und – wenn überhaupt – auch um KI als Lerngegenstand. Zudem wird an vielen Stellen auch die Frage aufgeworfen, wie KI als Impuls zur Veränderung der Lernkultur wirken kann. Genau das wird aus meiner Sicht aber längst nicht grundlegend genug angegangen. Denn dann würden wir nicht nur über kluges Prompting und Möglichkeiten für personalisiertes Lernen mit KI diskutieren, sondern zugleich auch unter anderen diese viel größeren und dringend nötigen Fragen aufwerfen:

  • Was müssen wir in unserer heutigen Gesellschaft eigentlich wissen und können?
  • Wie wollen wir unser Zusammenleben gestalten, und wie lernen wir dazu?
  • Wie können wir alle ermächtigen, sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen?

Diese Fragen scheinen auf den ersten Blick nichts mit KI zu tun zu haben. Stattdessen adressieren sie genau die Aspekte, die viele Pädagog*innen unter den Schlagworten Digitalisierung versus Digitalität schon lange vor der aktuellen KI-Debatte immer wieder aufgeworfen haben. Sie haben dafür plädiert, zeitgemäße Bildung nicht auf das Lernen mit digitalen Tools zu reduzieren, sondern zugleich die Frage zu stellen, wie gute Bildung in einer zunehmend digital geprägten und vernetzten Gesellschaft gestaltet sein muss. Genau dieser Schritt ist meiner Meinung nach auch in der KI-Debatte überfällig. Es sollte uns nicht nur darum gehen, wie wir mit KI Bildung gestalten, sondern viel weiter gefasst darum, wie wir gute Bildung in einer von KI geprägten Welt gestalten können.

Zugegeben, das ist eine sehr große Herausforderung. Wir stehen vor ihr in einer Situation, in der die PISA-Studie gerade zum wiederholten Mal bestätigt hat, dass viele Jugendliche nicht über grundlegende Basis-Kompetenzen verfügen, in der Lehrkräfte fehlen und die vorhandenen Lehrerinnen und Lehrer immer mehr ausgebrannt sind und in der an vielen Schulen noch nicht mal über fehlendes Internet geklagt wird, weil man noch damit beschäftigt ist, das marode Schulgebäude zu sanieren …

Ich finde allerdings: Gerade weil unser Bildungssystem schon so weit gegen die Wand gefahren ist, ist jetzt die beste Zeit, es von Grund auf neu und besser zu denken! Mein Bild dazu ist das eines Jongleurs, der ohnehin schon sehr viele Bälle in der Luft behalten muss. Eine Zeit lang wird es klappen, wenn man ihm weitere Bälle zuwirft (z.B. aktuell den KI-Ball) und er behält alle Bälle irgendwie weiterhin in der Luft. Irgendwann ist aber Schluss, die Bälle können nicht mehr gehalten werden und alle fallen zu Boden …

Wie können wir also als pädagogisch tätige Personen an unterschiedlichen Stellen konkret dazu beitragen, in der aktuellen KI-Debatte nicht weitere Bälle zu werfen bzw. versuchen, in der Luft zu behalten, sondern Bildung besser grundlegend neu denken. Wie können wir dazu die durch die KI-Debatte ausgelöste Bewegung nutzen, um Komposterde umzuschichten, anstatt den Zementmischer rotieren zu lassen?

Hierzu habe ich folgende Vorschläge:

  • Bei der Gestaltung oder Anfragen von KI-Fortbildungen anregen, nicht nur über das Lernen mit KI zu reflektieren, sondern vor allem darüber, wie Lernen in einer zunehmend vernetzten, von KI geprägten Gesellschaft aussehen sollte.
  • Wo immer möglich Schritte zur Unterstützung von mehr Lernendenorientierung und Ermächtigung zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit fördern, beispielsweise durch die Initiierung oder Weiterentwicklung von forschendem Lernen oder Projektlernen, durch mehr Fächerverbindung statt Fächersilos und durch mehr Demokratie an Lernorten. (In solchen Lernprozessen wird KI durch den gegebenen Lebensweltbezug so gut wie immer Thema sein.)
  • Hinterfragen, ob progressiv klingende Bezeichnungen in der KI-Debatte tatsächlich progressive Bildung meinen – oder wir uns damit selbst ein bisschen in die Tasche lügen (dazu passt diese Erzählung des Reformpädagogen Célestin Freinet zum so genanten adaptiven Lernen)
  • Gesamtgesellschaftlich deutlich machen, dass gute Bildung, die alle zum Umgang mit Komplexität ermächtigt, nicht nur eine soziale Frage ist, sondern auch grundlegend für das Funktionieren von Demokratie. Und dass diese Frage angesichts der Weiterentwicklung von KI-Technologie noch drängender geworden ist.
  • Austausch und Vernetzung vorantreiben und Verbündete suchen, um die Perspektive einer grundlegenden Neugestaltung in der Bildung zu stärken.

Die Bilder in diesem Beitrag sind mit Midjourney generiert und sind Public Domain. Der Text fasst sinngemäß meinen Impuls zusammen, den ich heute bei der Netzwerktagung Medienkompetenz in der Leopoldina in Halle (Saale) gehalten habe.


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