Adler steigen keine Treppen! (Auch keine intelligenten Treppen)

Wenn es in der aktuellen KI-Debatte um das so genannte adaptive Lernen geht, dann fällt mir manchmal die Erzählung ‚Adler steigen keine Treppen‘ des französischen Reformpädagogen Célestin Freinet ein, die dieser vor vielen Jahrzehnten geschrieben hat. (Hier kannst du das Original lesen).

In dieser Erzählung sieht sich ein Pädagoge vor die Herausforderung gestellt, eine Wissenstreppe für seine Schülerinnen und Schüler zu gestalten. Mit großer Sorgfalt und wissenschaftlicher Evidenz konzipiert er diese Treppe: Er passt die Höhe der Stufen akribisch an die normale Leistungsfähigkeit kindlicher Beine an. Zwischendurch bietet er Plattformen zum Verschnaufen und ein bequemes Geländer als Hilfestellung für Anfänger.

Die Kinder nutzen die Treppe allerdings nur so lange in der vorgesehenen Form, solange sie beaufsichtigt werden. Sobald der Pädagoge wegschaut, bricht aus Sicht des Pädagogen Chaos aus: Die Kinder erklimmen die Treppe auf allen Vieren oder nehmen mit Schwung mehrere Stufen auf einmal. Einige wagen sich sogar rückwärts die Treppe hinauf. Schließlich verlassen sie die Treppe ganz, laufen aus dem Haus, erkunden die Rückseite, klettern dort die Regenrinne hoch, überqueren die Balustraden und erreichen das Dach in Rekordzeit – schneller und geschickter als auf der sogenannten methodischen Treppe. Nach dem Aufstieg rutschen sie am Treppengeländer hinunter, um erneut das Abenteuer zu suchen …

Dem Pädagogen ist dieses Chaos gar nicht recht und er versucht, die Kinder zu disziplinieren und verflucht ihre Uneinsichtigkeit. Freinet stellt daraufhin dar, dass der Pädagoge anstelle der Kinder besser seine Treppe verfluchen sollte. Er schließt mit der Frage: „Könnte es nicht (…) eine Pädagogik für Adler geben, die keine Treppen erklimmen müssen, um nach oben zu gelangen?“

Wenn man diese Erzählung in die heutige KI-geprägte Welt übertragen würde, dann hätten wir es mit einem noch sorgsameren Pädagogen zu tun, der mithilfe der neuen technologischen Möglichkeiten sogar eine ‚intelligente Treppe‘ gestaltet: Die Stufen würden wahrnehmen, wenn ein Kind über- oder unterfordert sind und sich entsprechend heben und senken. Die Treppe würde permanent den Fortschritt der Kinder analysieren und direktes Feedback geben. Wer nicht weiterkäme, könnte sich kurze, individualisiert gestaltete Tutorials über die richtige Art und Weise des Treppensteigens abrufen …

Ich bin mir sicher, dass der Pädagoge aus Freinets Erzählung von dieser Art der Treppen-Gestaltung sehr begeistert wäre. Die Kinder (so hoffe ich zumindest, wenn sie durch ihre bisherige Schullaufbahn das nicht schon ganz verlernt haben) würden auch diese intelligente Treppe verschmähen und sich eigene, spannendere und offenere Herausforderungen suchen und diese zu bewältigen versuchen …

Die Frage, die Freinet vor vielen Jahren stellte, bleibt also auch heute noch im Kern die Gleiche: Wie kommen wir zu einer Pädagogik für Adler? Oder – weniger metaphorisch gesprochen: Wie setzen wir tatsächliche Lernendenorientierung um, nehmen Kinder und Jugendliche ernst und unterstützen sie dabei, ihre eigenen Lernwege zu gestalten?

Beitragsbild: Ein Adler fliegt über eine Treppe, generiert mit Midjourney, Public Domain.


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