In der durch die KI*-Debatte ausgelösten Bewegung in der Bildung ist es sowohl möglich, dass ein veraltetes Bildungssystem verfestigt wird, als auch dass Veränderungen bei der Lernkultur hin zu Ermächtigung der Lernenden zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in einer zunehmend komplexen Gesellschaft gelingen. Um sich auf den zweiten Weg zu begeben, möchte ich in diesem Blogbeitrag ein mögliches Vorgehen vorstellen. Ich nenne es ‚KI-Eduhacking‘.
Was genau ist KI-Eduhacking?
KI-Eduhacking bedeutet, dass die KI-Debatte und die damit einhergehenden Fortbildungsangebote in der Bildung bewusst genutzt werden, um Bildung in ihrer bestehenden Form zu ‚hacken‘, d.h. anders zu gestalten. Eigentlich ist es sogar ein doppeltes Hacking:
- ein Hacking des Bildungssystems bzw. der Lernkultur, anstatt die bestehende zu verfestigen.
- ein Hacking des vorherrschenden KI-Technologie-Ansatzes, der maßgeblich auf Automatisierung und Vereinfachung orientiert, anstatt auf klügere Menschen.
Ich mag die Perspektive von KI-Eduhacking vor allem deshalb, weil man sehr konkret und im Kleinen damit beginnen kann.
Praxisbeispiele für KI-Eduhacking
Im folgenden stelle ich fünf Beispiele für KI-Eduhacking vor: die Ermächtigung der Lernenden, die Veränderung der Prüfungskultur, Lernen für Komplexität, digitale Mündigkeit und mehr Kollaboration. Ich stelle jeweils dar, was der vorherrschende, erwartbare Weg wäre und was es bedeutet, sich dem gezielt zu widersetzen.
1. Ermächtigung von Lernenden
Die Anbieter*innen von KI-Technologien versprechen Lehrenden, dass sie Lernangebote für Lernende zukünftig deutlich einfacher und schneller erstellen sowie Lernfortschritte automatisiert überprüfen können. Damit passt sich KI-Technologie nahtlos in die vorherrschende Lernkultur ein, bei der Lehrende Inhalte an Lernende vermitteln und dann mithilfe von Tests überprüfen, ob das funktioniert hat. Sowohl Inhaltsvermittlung als auch Testfragen können z.B. mit KI-Arbeitsblatt-Tools oder auch einfach mithilfe von gut gewählten Prompts bei KI-Sprachmodellen sehr schnell und einfach generiert werden. Damit verbunden ist auch, dass Lehrende in der Rolle der ‚allwissenden‘ Person bleiben. KI-Technologie ermöglicht Lehrkräften in diesem Sinne beispielsweise, sich unkompliziert auf eine fachfremde Vertretungsstunde vorzubereiten.
KI-Eduhacking bedeutet in diesem Bereich stattdessen, dass KI-Technologie konsequent mit dem Ziel eingesetzt wird, Lernende zum selbstbestimmten Lernen zu ermächtigen. Das kann unterschiedlich aussehen:
- Anstatt einen Mega-Prompt vorzugeben, der Lernenden eine Art ‚Lern-Tutor‘ an die Seite stellt, können solche Mega-Prompts gemeinsam mit Lernenden entwickelt und von ihnen dann selbstbestimmt genutzt und perspektivisch auch selbst entwickelt werden.
- Anstatt Testfragen oder ähnliches für Lernende zu erstellen, kann Lernenden gezeigt werden, wie sie sich mithilfe von KI-Technologie zu einem Thema ‚abfragen‘ lassen bzw. ihr Wissen Schritt für Schritt erweitern können.
- Anstatt als Lehrkraft mithilfe von KI-Technologie ‚vorbereitet‘ in eine fachfremde Vertretungsstunde zu gehen, können Lehrende transparent machen, dass sie das Thema nicht kennen und gemeinsam mit Lernenden erkunden, wie man unter anderem mithilfe von KI-Technologie zu neuen Erkenntnissen kommen kann.
2. Veränderung der Prüfungskultur
Erleichterungen bei der Herausforderung der Bewertung ist eines der zentralen Versprechen der Anbieter*innen von KI-Technologie. Allerdings ergibt sich hier die Absurdität, dass alles was lehrseitig automatisiert werden kann, ganz genau so auch lernseitig automatisiert werden kann. Wenn eine Lehrkraft beispielsweise mithilfe von KI-Technologie ein Set von Übungsaufgaben zu einem bestimmten Thema erstellen kann, dann ist es für Lernende gleichermaßen möglich, diese Übungsaufgaben mithilfe von KI-Technologie zu lösen. Oder wenn Texte nach bestimmten Kriterien von einem KI-Tool bewertet werden, dann ist es für Lernende möglich, einen Text auf Basis dieser Kriterien mit einem KI-Tool generieren zu lassen …
Die Perspektive von KI-Eduhacking kann hier verhindern, dass Lehrende wie Lernende irgendwann nur noch Maschinen mit irgendwelchen Daten füttern und ansonsten aus dem Bildungsprozess draußen sind. Sie verhindert auch, dass KI-Technologie aus dem Bildungskontext herausgehalten bzw. ihre Nutzung sogar verboten wird, weil man genau diese Entwicklung verhindern will. Möglich ist das, indem beim KI-Eduhacking der Fokus des Lernens konsequent auf den Prozess und nicht auf das Produkt gelegt wird.
Hier sind ein paar Beispiele, wie das aussehen kann:
- Anstatt einen fertigen Text zu bewerten, wird bewertet, wie der Text entstanden ist. Dazu gehört es z.B. auch, dass Lernende transparent machen, auf welche Art und Weise sie warum welche KI-Technologie eingesetzt haben.
- Anstatt Lernende im Erstellungsprozess von Texten weitgehend allein zu lassen, können sie dazu ermächtigt werden, sich Rückmeldungen/ Korrekturen zu ihren ersten Entwürfen von einem KI-Tool einholen zu können.
- Anstatt mit KI-generierten Überprüfungen zu testen, ob Lernende einen Lerninhalt verstanden haben, können Lernende eigene Selbstüberprüfungen gestalten oder von KI-Tools generieren lassen. Daraus kann sehr gut abgeleitet werden, ob das Thema verstanden wurde oder nicht. Im besten Fall kommen Lernende dadurch zu einer realistischen Selbsteinschätzung und können dann selbstbestimmt weiter lernen.
Wenn mit KI-Eduhacking auf diese Weise kleine Schritte hin zu einer veränderten Prüfungskultur gegangen sind, können weitere Schritte folgen. Statt Inhaltsvermittlung und anschließender Überprüfung kann es dann um die selbstbestimmte, erkundende Arbeit an eigenen Fragen gehen, bei denen Lernende von Lehrkräften begleitet werden – und dazu natürlich auch KI-Tools nutzen können.
3. Lernen für Komplexität
Automatisierung geht in den meisten Fällen mit Vereinfachung Hand in Hand. Inhalte werden sortiert, aufbereitet und vermittelt, anstatt Komplexität zuzulassen und einen Umgang damit zu erlernen. Letzteres ist der Ansatz, der mit KI-Eduhacking verfolgt wird. Hier sind Beispiele, wie das konkret aussehen kann:
- Anstatt Lerninhalte zu den klassischen Lehrplanthemen bei KI-Sprachmodellen generieren zu lassen, kann man die in KI-Sprachmodellen gespeicherte, riesigen Datenmengen dazu nutzen, um gezielt fächerverbindende Lerninhalte zu entwickeln. Was wären z.B. mögliche Projekte, die man auf Basis des Lehrplans der Sek I im Bundesland xy unter Berücksichtigung von Mathematik, Geschichte, Musik und Englisch gestalten könnte? Ein KI-Sprachmodell kann hier durchaus interessante Inspirationen generieren, mit denen man dann weiterarbeiten kann.
- Zum Umgang mit Komplexität gehört auch Kreativität im Sinne von ’neu Denken‘. Hierzu können KI-Tools auf unterschiedlichste Weise genutzt werden. Insbesondere kann mit Text (aber auch mit anderen medialen Formaten) kreativ gespielt und erkundet werden. Beispielsweise können Texte aus unterschiedlichen Perspektiven umgeschrieben werden, Geschichten aus Reizwörtern generiert und analysiert werden oder Bilder und Videos beliebig remixt werden.
- Der Umgang mit Komplexität erfordert die Fähigkeit, eigene Anliegen zu entwickeln und voranzubringen, sowie Inhalte von anderen für sich einzuordnen und zu kontextualisieren. KI-Tools verfügen über keinerlei Autonomie oder Wissen und können solche Herausforderungen deshalb nicht bewältigen. Ein KI-Eduhacking-Ansatz bedeutet deshalb, von KI-Tools keine ‚fertigen‘ Lösungen generieren zu lassen. Stattdessen gilt es, soviel Interaktion wie möglich mit den Tools selbst und vor allem auch in der realen Welt vorzunehmen. Konkret kann das z.B. so aussehen, dass man sich von einem KI-Tool für den Einstieg zu einer Herausforderung eine erste Liste mit möglichen Stichpunkten zu einem gewählten Thema generieren lässt und diese dann in einem Peer-to-Peer Kontext reflektiert, bevor man konkreter damit weiter arbeitet. Das Gegenteil dazu wäre der Prompt: ‚Hallo ChatGPT, schreibe mir eine Erörterung zum Thema xy‘.
Lehrkräfte stehen beim KI-Eduhacking in Hinblick auf Komplexität vor der Aufgabe, solch eine Praxis sowohl für sich selbst zu etablieren, als auch Lernende dabei zu unterstützen.
4. Digitale Mündigkeit
Die vorherrschende Perspektive auf KI-Technologie in der Bildung ist eine Einordnung der KI-Tools als Werkzeuge. KI-Tools sind dann vielleicht mit einem Taschenrechner vergleichbar. Fortbildungen zu KI im Bildungskontext fokussieren sich deshalb häufig auf die Frage: Wie können wir KI-Tools zum Lehren und Lernen nutzen?
KI-Eduhacking bricht bewusst mit dieser Perspektive. Stattdessen wird KI-Technologie nicht nur als Lernwerkzeug, sondern ganz genau so auch als Lerngegenstand eingeordnet. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine ausschließliche Betrachtung als Werkzeug bei dieser Technologie für einen sinnvollen Einsatz gar nicht möglich ist. Denn wenn ich nicht verstehe, wie z.B. ein generatives Sprachmodell funktioniert, dann kann ich weder sinnvolle Prompts eingeben, noch den Output des Chatbots für mich sinnvoll einordnen. Ich kann auch keine mündige Entscheidung über die Nutzung von KI-Tools treffen, wenn ich die dahinter stehenden Interessen der Anbieter*innen nicht kenne. Vor dem Hintergrund der Lernkultur ist diese Erweiterung der Perspektive entscheidend, da Lernende somit nicht nur zur Nutzung von digitalen Tools befähigt, sondern zugleich zur Gestaltung der Digitalisierung ermächtigt werden.
Hier sind ein paar konkrete Beispiele, wie sich das umsetzen lässt:
- Zur Nutzung von KI-Tools gehört immer auch das Lernen über KI-Tools. In der aktuellen KI-Debatte geht es hier vor allem um die Technik hinter großen Sprachmodellen, die gut als Wahrscheinlichkeitswürfelei auf Basis riesiger Datenmengen erklärt werden kann. Zugleich gilt es auch die Interessen der anbietenden KI-Unternehmen deutlich zu machen und auf Schwierigkeiten wie z.B. die Intransparenz der verwendeten Datenbasis oder von Filtermechanismen, den großen Ressourcenverbrauch oder die mögliche ‚politische‘ Färbung hinzuweisen. Denn Technologie ist per se nie ’neutral‘. Es handelt sich hier um eine gesamtgesellschaftliche Lernherausforderung, die in diesem Sinne auch für Lehrende wie Lernende gleichermaßen relevant ist.
- Lernen über KI-Tools kann wunderbar in erkundender und spielerischer Art und Weise erfolgen. Anstatt Prompts mit dem Ziel einzugeben, darauf die erwünschten, generierten Inhalte zu erhalten, kann auch bewusst nach Prompts gesucht werden, die die Funktionsweise von KI-Sprachmodellen sichtbar machen und in diesem Sinne auch sehr klar die Grenzen aufzeigen. Ich habe dazu zum Beispiel mit Scherzfragen experimentiert. Auf ähnliche Art und Weise können zum Beispiel auch Stereotype, die den KI-Modellen inhärent sind, aufgezeigt werden. Das funktioniert besonders gut mit Bildgenerierungs-Tools.
- Anstatt sich von KI-Sprachmodellen aus Lehrenden-Perspektive Unterrichtsentwürfe oder Workshopkonzeptionen erstellen zu lassen, die in der Regel sehr nach Schema F gestaltet sind, da basierend auf der vorherrschenden Lernkultur, können solche generierten Unterrichtsentwürfe bewusst als Analysebeispiel genutzt werden, um sich zu fragen, was darin fehlt bzw. wie es anders gehen könnte. Aus Lernenden-Perspektive können generierte Outputs auf Anfragen ebenfalls daraufhin analysiert werden, was fehlt und wie es auch ganz anders aussehen könnte.
5. Kollaborative Gestaltung von Bildung
KI-Fortbildungen setzen meiner Wahrnehmung nach immer mehr auf Vereinfachung: Es werden z.B. fertige Prompts vorgestellt, die direkt in einzelnen Fächern eingesetzt werden können, Oder es wird erklärt, was erlaubt und was verboten ist und wie KI-Tools wann genutzt werden sollen. Diese Tendenz finde ich vor allem vor dem Hintergrund schwierig, da es aus meiner Sicht noch keine fertigen Antworten auf die Frage der KI-Nutzung in der Bildung gibt. Es geht vielmehr darum, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, solche Antworten zu entwickeln. Genau das wird mit KI-Eduhacking versucht. Vor dem Hintergrund der Veränderung der Lernkultur ist diese Perspektive entscheidend, da dadurch an einem sehr konkreten Beispiel gezeigt werden kann, dass Pädagog*innen keine Einzelkämpfer*innen sein sollten, sondern pädagogische Gestaltung eine kollaborative Herausforderung ist.
In Hinblick auf die pädagogische Reflexion zu KI kann das beispielsweise wie folgt aussehen:
- Anstatt klassische Fortbildungen zu gestalten, die KI-Nutzung für Lehrkräfte ‚vermitteln‘, gilt es Freiräume zu schaffen, in denen kollegial über sinnvolle Nutzung und Nicht-Nutzung beratschlagt werden kann.
- Anstatt in Vorgaben festzuzurren, welches Tool wie genutzt werden darf, sollte man sich auf einzuhaltende Mindeststandards beschränken und ansonsten bewusst Raum zum Experimentieren und Erkunden geben.
- Anstatt sich bei KI-Fortbildungen überwiegend an Lehrkräfte zu richten, sollten Lehrende und Lernende gemeinsam zu KI experimentieren, lernen und reflektieren dürfen.
Zu dieser Perspektive gehört natürlich auch, dass nicht jede Schule oder Bildungseinrichtung das Rad immer wieder neu erfinden muss, sondern dass auch zwischen unterschiedlichen Institutionen Austausch ermöglicht und unterstützt wird.
Fazit
KI-Eduhacking ist eine Perspektive, mit der in der KI-Debatte bewusst und gezielt eine Veränderung der Lernkultur angestoßen wird. Ich versuche KI-Technologie zum einen für mich selbst auf diese Weise zu nutzen. Zum anderen möchte ich diese Perspektive auch verstärkt in KI-Fortbildungen zur Grundlage nehmen. Ich bin gespannt darauf, welche weiteren Überlegungen sich daraus ergeben. An deiner Einschätzung zum KI-Eduhacking bin ich ebenfalls interessiert.
PS. Ich habe den Blogbeitrag bewusst als Gegenüberstellung angelegt. Also in der Form: ‚Anstatt Bestehendes zu verfestigen, sollte besser Veränderung vorangebracht werden …‘ Das habe ich deshalb so gemacht, um den Ansatz des KI-Eduhacking möglichst klar verständlich zu machen. In der Realität lässt sich daraus aber sicherlich an vielen Stellen auch ein ‚Sowohl als auch‘ machen. Das bedeutet, dass KI-Eduhacking nicht alternativ, sondern auch als Ergänzung zu den aktuell vorherrschenden Ansätzen gedacht werden kann.
*Mit dem unscharfen Begriff der ‚KI‘ sind in diesem Blogbeitrag vor allem große Sprachmodelle wie ChatGPT des Unternehmens OpenAI gemeint, da diese Form von KI die aktuelle Debatte in der Bildung maßgeblich prägt.
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