Gärtner:in oder Architeckt:in?

In diesem Blogbeitrag stelle ich eine mögliche Unterscheidung beim Lernen bzw. bei der Konzeption von Lernangeboten vor: die Unterscheidung zwischen ‘Gärtnern’ und ‘Architektur’.

Was ist mit Gärtnern versus Architektur gemeint?

Was mit der Metapher ‘Gärtnern’ versus ‘Architektur’ gemeint ist, verdeutlicht der Autor G.R.R. Martin am Beispiel des kreativen Schreibens im folgenden Zitat:

Die Architekt*innen planen alles im Voraus, wie beim Bau eines Hauses. Sie wissen, wie viele Räume das Haus haben wird, welche Art von Dach sie haben werden, wo die Kabel verlaufen werden, welche Art von Sanitäranlagen es geben wird. Sie haben die ganze Sache geplant und entworfen, bevor sie auch nur das erste Brett annageln. Die Gärtner*innen graben ein Loch, legen einen Samen hinein und gießen ihn. Sie wissen irgendwie, welcher Samen es ist, sie wissen, ob sie einen Fantasiesamen oder einen Mystery-Samen oder was auch immer gepflanzt haben. Aber wenn die Pflanze aufgeht und sie sie gießen, wissen sie nicht, wie viele Äste sie haben wird. Sie finden es heraus, wenn sie wächst.

G.R.R. Martin – zitiert in Nesslabs übersetzt von mir und DeepL.

Aus meiner Sicht lässt sich diese Unterscheidung von Gärtnern und Architektur wunderbar auf Denk- und Lernprozesse übertragen: Ich kann – im Sinne des Gärtnerns – etwas offen entwickeln. Oder mir – im Sinne des Architektur-Ansatzes – einen Plan machen und diesen dann Schritt für Schritt umsetzen.

Wie hilft diese Unterscheidung beim eigenen Lernen und der Konzeption von Lernangeboten?

Die Unterscheidung zwischen den Ansätzen der Architektur und des Gärtnerns ist erstens als Reflexion beim eigenen Lernen und bei der Konzeption von Lernangeboten hilfreich. In diesem Blickwinkel ist das ‘Gärtnern’ somit weder besser noch schlechter als der Architektur-Ansatz, sondern eben anders. Es hilft aber, wenn man sich verdeutlicht, wie man gerade lehren oder lernen will.

Zweitens kann es der Ansatz des ‘Gärtnerns’ – so meine These – vielleicht manches Mal ermöglichen, eine Kultur der Digitalität mehr zur Grundlage des Lehrens und Lernens zu machen, als man es ausgehend von bekannten Mustern und Routinen vielleicht getan hätte. In diesem Fall kann ein Aufruf zu ‘mehr digitalem Gärtnern’ dazu beitragen, dass Lehren und Lernen offener, vernetzter und kollaborativer wird.

‘Gärtnern’ und zeitgemäße Bildung

Wenn man zeitgemäße Bildung bzw. Lernen und Lehren in einer Kultur der Digitalität basierend auf den so genannten 4K Kompetenzen Kollaboration, Kreativität, kritischem Denken und Kommunikation sieht, dann lässt sich die Verbindung zum Ansatz des ‘digitalen Gärtnerns’ sehr einfach deutlich machen:

  • Gärtnern steht für Kreativität (= neu Denken), weil Verbindungen hergestellt und auf diese Weise ein Themenkomplex anders betrachtet werden kann.
  • Gärtnern steht für Kollaboration (= gemeinsam Denken), weil auf den Ideen und Erfahrungen von anderen aufgebaut und Austausch und Vernetzung angestrebt wird.
  • Gärtnern steht für kritisches Denken (= selbst denken), weil Verbinden und Vernetzen immer auch kontextualisieren bedeutet. Oder auch: Man macht sich selbst sein Bild von der Welt.
  • Gärtnern steht für Kommunikation (= Gedachtes mitteilen), weil Gärtnern zu Ernte führen kann. Und diese kann dann geteilt werden.

Praktisches Beispiel für digitales Gärtnern: Roam Research

Inzwischen ist hoffentlich klarer geworden, was mit digitalem Gärtnern gemeint ist. Wie kann es aber praktisch aussehen? Als Beispiel möchte ich gerne das Tool Roam Research vorstellen.

Roam Research – oder auch kurz nur: Roam – ist ein kostenpflichtiges Tool, das als Notiztool für vernetztes Denken eingeordnet werden kann. Es kombiniert wikiartige Verlinkungsmöglichkeiten mit Produktivitätstools sowie dem Potential für die Entwicklung neuer Verbindungen. (Ich habe zu Roam in der Vergangenheit immer wieder einiges gelesen, denn gerade im englischsprachigen Raum gibt es einen ziemlichen Hype darum. Das zeigt unter anderem auch der Twitter-Hashtag #roamcult.)

Die Besonderheit an Roam ist der offene Netzwerk-Ansatz. Man startet mit einer zunächst leeren Datenbank. Durch regelmäßiges Notizen festhalten, Recherchieren und Schreiben entsteht eine Datenbank, in der man neue Verbindungen entdecken und auf diese Weise Neues gestalten kann. Wenn man dann damit beginnt, einen Text zu einem bestimmten Thema zu schreiben, dann startet man nicht mit einer Gliederung, zu der man dann Inhalte recherchiert. Stattdessen lässt man sich anzeigen, wo und wie das Thema in der Datenbank auftaucht – und entwickelt aus dieser Betrachtung dann den gewünschten Text. Noch spannender wird Roam, wenn ich meine Datenbank mit den Datenbanken von anderen kopple – und auf diese Weise nochmals ganz neue Verbindungen und damit auch Lernprozesse entstehen können.

Im folgenden Screencast zeige ich das Prinzip von Roam – ganz schnell aufgezeichnet – nochmals etwas genauer:

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Was sind weitere Ansätze des ‘Gärtnerns’ beim Lehren und Lernen?

Das oben vorgestellte Rom Research ist ein Beispiel für ein Tool, dem digitales Gärtnern sehr stark innewohnt. Doch auch unabhängig von einem konkreten Tool lässt sich digitales Gärtnern in der Bildung realisieren. Dazu möchte ich abschließend drei Anregungen teilen:

1. Materialerstellung als Remix

Bei den #OERcamp Werkstätten im vorletzten Jahr kamen Menschen zusammen, die in ca. 2 Tagen ein digitales Bildungsmaterial erstellen und offen teilen wollten. Ich habe dazu eine Art Canvas gestaltet, mit dem die Beteiligten Schritt für Schritt durch den Prozess der Materialerstellung geführt wurden. Fragen waren beispielsweise: Zu welchem Thema möchtest Du etwas erstellen? In welchem Format? In welchem Umfang? etc. Der Zettel wurde ausgefüllt und dann mit der Umsetzung begonnen. Damit war die Anleitung sehr stark am ‘Architektur-Ansatz’ orientiert. Ebenso wäre aber auch ein Gärtnerei-Ansatz denkbar. In diesem Fall würde kein linearer Plan vorgeschlagen, sondern Anregungen gegeben, wie sich Ideen entwickeln und Inspirationen finden lassen. Fragen könnten dann zum Beispiel sein: Was haben andere zu diesem Thema gemacht? Welche Formate findest Du spannend? Welche Bausteine kannst Du entwickeln? etc. Mit diesen Fragen wäre zu Beginn noch gar nicht klar, was am Ende für ein Material dabei herauskommt. Es würde an einer Stelle mit der Entwicklung gestartet – und dann immer weiter überlegt und manches Mal vielleicht auch verworfen werden. Schritt für Schritt entsteht dann immer mehr und kann zusammengefügt werden.

2. Kollaborative Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung:

Den Ansatz des Gärtners finde ich auch hilfreich, um aktives Lernen zu ermöglichen und von den Fragen und Interessen der Lernenden auszugehen. Anstatt also als lehrende Person einen festen Plan im Kopf zu haben, was ich nacheinander ‘vermitteln’ will, starten wir in der Lerngruppe mit einer Bestandsaufnahme: Was können wir dazu schon? Was wollen wir weiter lernen? Davon ausgehend kann dann Lernen gestaltet werden. Bevor die Abfrage gemacht wird, weiß ich als lehrende Person nicht, was am Ende dabei rauskommt.

3. Online-Lernen als Erkundung:

Insbesondere beim Online-Lernen stellt sich oft die Frage, wie selbstverantwortliches und selbstgesteuertes Lernen unterstützt und begleitet werden kann. Viele der Ansätze, die ich dabei wahrgenommen haben, verfolgen eher einen Architektur-Ansatz: Themen werden in kleine Lerneinheiten unterteilt, in einen Plan übertragen und dann Schritt für Schritt ‘abgearbeitet’. Vielleicht kann es hier manchen Lernenden (bzw. auch sich selbst als lehrende Person) helfen, einen alternativen Weg vorzuschlagen: den, der Online-Erkundung. Die Frage ist dann nicht mehr, ob dies und jenes ‘geschafft’ wurde, sondern: Was habe ich erkundet und gelernt? Was kann ich damit jetzt machen?

Fazit: Mehr digitales Gärtnern wagen :-)

Wie oben dargestellt, kann auch der Architektur-Ansatz in der Bildung oft seine Berechtigung haben. Insgesamt empfehle ich aber, das Gärtnern mindestens mit in den Blick zu nehmen, um Lernen offener, vernetzter und kollaborativer zu gestalten.


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