Das Fediverse als ‚Lerntool‘

Jahrelang stand die Plattform Twitter auf Platz 1 der von Jane Hart jährlich erfragten wichtigsten ‚Lerntools‚. Unter anderem in der Corporate Learning Community finden sich zahlreiche, anschauliche Beispiele, wie das Lernen mit Twitter konkret aussehen kann bzw. konnte.

Die folgenden Aspekte werden dabei als besonders hilfreich herausgestellt:

  • Man erhält Informationen aus erster Hand.
  • Es lässt sich durch das gezielte Folgen von Accounts ein ’sozialer Filter‘ aufbauen und so genau die Beiträge lesen, die für einen relevant sind.
  • Die kurze Zeichenzahl eines Tweets unterstützt Komprimierung von Inhalten. ‚Knackpunkte‘ können gut erfasst werden.
  • Durch das Teilen eigener Beiträge und den Austausch darüber lässt sich ein soziales Lernnetzwerk aufbauen.

Genau auf diese Art und Weise habe ich ebenfalls lange Zeit versucht, mit Twitter zu lernen. Inzwischen habe ich meine primäre Online-Heimat ins Fediverse verlegt und stelle fest:
All das geht im Fediverse auch – und noch viel mehr! Denn neben ähnlichen Funktionen, die von proprietären Social Media Plattormen bekannt sind, hat das Fediverse einen insgesamt konstruktiveren Rahmen für das Lernen. Außerdem bietet z.B. die von mir primär verwendete Plattform Mastodon auch einige softwarespezifische Funktionen, die Lernen wunderbar unterstützen können.

Hier kommt ein schneller Überblick:

1. Rahmen für eine konstruktive Diskussionskultur

Im Fediverse werden Beiträge chronologisch sortiert angezeigt. Es ist unerheblich, wieviele ‚Favs‘ (= Sternchen, vergleichbar mit Likes auf anderen Plattformen) ein Beitrag erhält. Die Reichweite bemisst sich danach, wer ihn teilt und wer wem folgt – nicht danach, was ein Algorithmus denkt, welcher Inhalt Menschen möglichst lange auf der Plattform hält. Dadurch wird Empörung nicht befördert und wer im Fediverse lernen will, muss sich somit viel weniger an Übertreibungen abarbeiten. Stattdessen sorgt der entwickelte Rahmen dafür, dass man tendenziell ‚ehrliche‘ Informationen erhält – und vor allem auch alle, die ich haben möchte – und nicht nur eine von einem Algorithmus vorsortierte Auswahl.

2. Viel Raum zur Strukturierung des eigenen Netzwerks

Da mir kein Algorithmus möglicherweise für mich passende Inhalte vorschlägt, ist Netzwerkaufbau im Fediverse zu großen Teilen Handarbeit. Für diese Handarbeit steht mir aber erfreulicherweise jede Menge Raum zur Verfügung: Das beginnt damit, dass ich mich für eine bestimmte Instanz entscheiden kann und so eine je nach dieser Wahl unterschiedliche ‚lokale‘ Zeitleiste bekommen. Weiter kann ich durch das Folgen von anderen Accounts meine persönliche Startseite gestalten. In der neusten Version von Mastodon ist es zudem auch möglich, Hashtags zu folgen. Über die föderierte Zeitleiste kann ich immer wieder auf neue Perspektiven stoßen. Mit der Einrichtung von Listen kann ich mein Netzwerk noch weiter strukturieren. Alles zusammen betrachtet ist Netzwerkaufbau im Fediverse mehr Arbeit, aber genau das ist ja eine wunderbar gute Sache für das Lernen. Denn so kann man den Netzwerkaufbau sehr bewusst gestalten und damit dann Schritt für Schritt für sich selbst ein sehr relevantes Netzwerk entwickeln.

3. Kluge Reichweite

Beiträge werden in den unterschiedlichen Zeitleisten wie oben bereits beschrieben chronologisch angezeigt. Ob ein Beitrag aber überhaupt in einer Zeitleiste auftaucht, entscheidet sich danach, wer der schreibenden Person folgt und vor allem auch, ob er geboostet, d.h. geteilt/ verbreitet wird. Auf diese Weise entwickelt sich Reichweite auf sehr kluge Art und Weise. Denn wenn ein Beitrag für viele relevant ist, wird er auch von vielen geboostet – und er bekommt eine hohe Reichweite. Wenn er nur für eine bestimmte Gruppe von Menschen relevant ist, teilen diese ihn gezielt in ihre Netzwerke. Im Ergebnis kann ich mir sicher sein, dass ich erstens sehr oft genau die Beiträge angezeigt bekomme, die für mich relevant sind. Und je mehr ich mein Netzwerk aufgebaut habe, desto besser wird es gelingen. Zweitens kann ich auch bei meinen eigenen Beiträgen sicher sein, dass sie die Menschen erreichen, für die der jeweilige Inhalt relevant ist. Das können sehr viele Menschen sein oder auch nur wenige, aber immer die ‚richtigen‘, d.h. es gibt keine Reichweite um der Reichweite willen.

4. Wechselmöglichkeit in direkte Kommuniktion

Bei Mastodon habe ich die Möglichkeit, von einem Beitrag aus, in eine direkte Kommunikation zu wechseln. Dazu verändere ich einfach in meiner Antwort ihre Sichtbarkeit – und gebe an, dass sie nur für die erwähnten Personen sichtbar ist. Zum Lernen ist das großartig, weil es schnelle Nachfragen unterstützt, Feedback vereinfachen kann oder auch vertieftere, persönliche Diskussionen. Ich bin dann nicht mehr in einem öffentlichen Thread, in dem sich potentiell sehr viele Menschen bewegen, sondern in einem Gespräch mit einer oder auch mehreren Personen. Natürlich kann ich stattdessen auch sichtbar für alle antworten, aber es gibt eben auch die andere Funktion. Ich nutze sie zunehmend und sie gefällt mir sehr gut. So sieht das in der Praxis aus:

Screenshot von der Mastodon-Oberfläche: In der Mitte kann ich den Beitrag von Gration anklicken und dann rechts bei meiner Antwort auswählen, dass diese nur an die erwähnten Personen gehen soll.

5. Empfohlene Hashtags als Lerntagebuch

In meinem Profil bei Mastodon habe ich die Möglichkeit, Hashtags zu empfehlen. Die Funktion und auch die Darstellung ist etwas versteckt und findet sich, wenn man das Profil bearbeitet.

Aktuell empfehle ich in meinem Profil z.B. die Hashtags #OER und #Sonntagsthese. Über #OER können andere alles finden, was ich offen lizenziert teile (zumindest nehme ich mir das gerade so vor). Unter #Sonntagsthese teile ich jeden Sonntag eine eher grundlegende These zu guter Bildung. Andere haben das zum Teil schon nachgemacht. Über den Hashtag lassen sich also sowohl alle Sonntagsthesen lesen, als eben auch über den empfohlenen Hashtag in meinem Profil die von mir veröffentlichten Sonntagsthesen.

Aus meiner Sicht hat diese Funktion großes Potential z.B. für Learning Circles oder andere Peer-to-Peer Lernformate. Beispielsweise könnte sich eine Gruppe von Menschen einen Hashtag suchen, über den alle einen bestimmten Lernprozess durchlaufen – und ich kann mir dann den Lernprozess von jeder anderen Person ansehen und auch meinen eigenen. Auch im Sinne eines ‚Learning Out Loud‘ kann ich die Funktion nutzen, z.B. wenn ich einen Hashtag erfinde für die Gestaltung eines Online-Kurses – und unter diesem Hashtag dann immer über meine nächsten Schritte dabei berichte.

Ebenso wie ich Hashtags empfehlen kann, kann ich auch andere Accounts empfehlen. Damit kann z.B. Community-Buildung unterstützt werden oder auch gezielt andere Perspektiven von mir als einzelne Person in meine sonstige ‚Blase‘ geholt werden.

Screenshot meines Mastodon-Profils. An der rechten Seitenleiste sieht man ‚Nele Hirsch empfiehlt‘.

6. Notizen zu anderen Personen

Wenn ich die Profile von anderen Personen aufrufe, dann finde ich dort ein Notizfeld, in das ich Informationen zu dieser Person eintragen kann. Diese Informationen sind nur für mich sichtbar. Es eignet sich sehr gut, um sich selbst z.B. daran zu erinnern, was man mit dieser Person bereits gemacht hat, warum man ihr folgt oder was ansonsten noch relevant erscheint. Es ist eine hilfreiche Sache zur Strukturierung eines persönlichen Lernnetzwerks.

7. Integration mehrerer Accounts mit unterschiedlichen Funktionen

In den bisherigen Punkten bin ich viel gezielt auf Mastodon eingegangen. Das ist aber längst nicht die einzige Plattform, die einem im Fediverse zur Verfügung steht. Vielmehr lassen sich fast alle Online-Aktivitäten mit dem Fediverse verbinden. Ich habe beispielsweise meine WordPress-Website zu einem Teil des Fediverse gemacht, poste Bilder über Pixelfed und Videos über meine eigene Peertube Instanz. Über meinen Hauptaccount lässt sich alles weiterverbreiten – und andere Menschen können mit einem Account allen diesen unterschiedlichen Angeboten folgen. Ich kann das ebenso tun.

Vor diesem Hintergrund ist das Fediverse ein praktisch grenzenloser Kosmos an Informationen, Inhalten und spannenden Menschen, die potentiell alle miteinander vernetzt sind – und die ich für mich durch Kommunikation und Austausch mit anderen für mich erschließen, kontextualisieren und nutzen kann. Ich halte das für eine zentrale Kompetenz in einer digitalisierten Gesellschaft. Gut, dass wir alle dazu im Fediverse lernen können :-)

Fazit: Komm dazu und lerne mit!

Wenn Du jetzt Lust bekommen hast, das Fediverse als Lerntool auszuprobieren, dann suche Dir eine Plattform aus (z.B. Mastodon) und eine Instanz, registriere Dich – und schon bist Du dabei. Etwas ausführlicher und zum Nachmachen geeignet habe ich meinen Weg ins Fediverse hier beschrieben.

PS. Ich mag den Begriff ‚Lerntool‘ für ein soziales Netzwerk persönlich nicht besonders gerne, aber nutze ihn hier, weil ich damit an eine Diskussion anschließe, die es in der Bildungs-Community schon länger gibt.


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