Brauchen wir eine KI-Revolution in der Bildung?

Beim Educamp am Wochenende in Minden habe ich eine Session mit einem etwas trotzigen und bewusst provozierendem Titel eingereicht:

Meine Erkenntnisse aus der Session und meine Reflexion dazu möchte ich in diesem Blogbeitrag teilen. Es handelt sich dabei um Versuche von Antworten auf drei Fragen: Wohin soll es gehen? Was kann unsere Rolle (= als grundsätzlich digital-aufgeschlossene Pädagog*innen) sein? Und was können wir tun?

1. Wohin soll es gehen?

Das Wettrennen um die schnellsten und besten Zugänge zu KI ist in der Bildung im vollen Gange. Auch viele digital-aufgeschlossene Pädagog*innen fordern diese ein. Ich finde das zunächst einmal verständlich. Denn nachdem die Digitalisierung in der Bildung jahrelang weitgehend verschlafen wurde und beispielsweise immer noch nicht alle Schulen über eine gute digitale Infrastruktur verfügen, scheint es nun umso wichtiger, solch einen Fehler bei KI nicht noch einmal zu machen. Da trifft es sich gut, dass auch die Politik im globalen KI-Wettbewerb nicht hinten anstehen will und viele Edtech-Unternehmen ebenfalls in den Startlöchern stehen. Ziehen wir also alle an einem Strang und werben für die KI-Revolution in der Bildung?

Ich finde, dass wir uns als digital-aufgeschlossene Pädagog*innen in dieser Situation allen voran die Frage stellen müssen, wohin die Reise gehen soll. Für mehr KI zu werben, heißt nicht automatisch für bessere Bildung zu werben. Um bessere Bildung zu erreichen, brauchen wir Nordsterne, die wir in der durch KI ausgelösten Unübersichtlichkeit und Bewegung ansteuern können. Dazu kann beispielsweise mehr Demokratie und Partizipation aller Beteiligten im Bildungssystem, mehr Selbstbestimmung und Emanzipation der Lernenden oder auch mehr Gleichheit und Solidarität anstelle einer immer weiteren Öffnung der Bildungsschere gehören. Schreiben wir dagegen nur und vorrangig KI auf unsere Fahnen, kann sich die Bildung auch in eine sehr entgegen gesetzte Richtung entwickeln. Denn die aktuell vorherrschende KI zeichnet sich nicht in erster Linie durch Gemeinwohlorientierung aus. Wenn die Reise deshalb hin zu guter Bildung gehen soll, müssen wir das entsprechend einfordern.

Update: Mir gefällt in diesem Zusammenhang sehr gut dieser Beitrag von Dejan, in dem er darauf hinweist, dass viel zu oft bei Bildung und Digitalisierung die Technik der Ausgangspunkt ist und nicht das Lernen.

2. Was ist ‚unsere‘ Rolle?

Die Rolle von digital-aufgeschlossenen Pädagog*innen war in den letzten Jahren sehr oft, Bremsklötze für Digitalisierung im Kontext der Bildung aus dem Weg zu räumen. Fast schon Mantra-artig musste immer wieder wiederholt werden, dass es mehr und bessere digitale Infrastruktur in Bildungsinstitutionen braucht, dass ohne funktionierendes WLAN kein Lernen im Internet realisiert werden kann und dass aktives Medienhandeln ausgehend von der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen ein unerlässlicher Bestandteil von guter Bildung in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft ist …

Es liegt sehr nahe, dass wir vor diesem Hintergrund in der KI-Debatte nun nahtlos an diese Rolle anschließen und im Einklang mit vielen anderen erst einmal vorrangig für mehr KI in der Bildung werben. An vielen Stellen ist das wahrscheinlich auch nötig. Dennoch nehme ich die KI-Debatte insgesamt und überwiegend anders wahr: Die Faszination angesichts der technologischen Möglichkeiten überwiegt sehr oft gegenüber dem kritischen Hinterfragen. Hinzu kommt, dass die KI-Welle sehr viel größer und höher erscheint, als andere Digitalisierungsentwicklungen zuvor. In dieser Situation wird deshalb aus meiner Sicht ein kritisch-konstruktiver Blick wichtiger.

Zu solch einem kritisch-konstruktiven Blick gehören zum Beispiel die folgenden Fragen:

  • Ist wirklich immer KI drin, wo KI draufsteht bzw. wo ist KI einfach nur ein Marketing-Versuch?
  • Sind angeblich wertvolle pädagogische KI-Tools zum Teil nicht oft auch ziemlich billig und schlecht gemacht?
  • Welche Art von KI wollen und brauchen wir in der Bildung?

Die Schwierigkeit an solch einer kritisch-konstruktiven Position liegt erstens darin, dass man sich schnell im Bündnis mit Menschen wiederfindet, die den Einsatz von KI in der Bildung grundsätzlich falsch finden und am liebsten verbieten wollen. Genau das ist aber ja nicht das Anliegen. Zweitens ist ‚einfach mal machen‘ eine bei vielen gern gesehene Haltung. Hinterfragen wird aus dieser Perspektive dann eher als Ärgernis wahrgenommen. Hier liegt aus meiner Sicht jedoch ein Missverständnis. Denn die skizzierte kritisch-konstruktive Haltung bedeutet ja ganz und gar nicht, sich erst einmal an den Rand zu stellen und abzuwarten. Stattdessen ist damit gemeint, den Prozess zwar kritisch denkend, aber genau deshalb immer aktiv zu gestalten. Das bringt uns zur dritten und letzten Frage: Was können wir tun?

3. Was können wir tun?

Sich mit einer konstruktiv-kritischen Perspektive in die laufenden Diskussionen um KI einzumischen, ist das eine. Das andere ist die konkrete Frage nach dem: Was tun? Zur Beantwortung dieser Frage finde ich das Manifest für langsames Denkens hilfreich. Dieses Manifest zielt auf gute Entscheidungsfindung in komplexen Zeiten. Dazu werden vier Orientierungen vorgeschlagen:

  • Fragen vor Antworten
  • Beobachten vor Bewerten
  • Perspektivwechsel vor Standpunkt
  • Selbstreflexion vor Fremdkritik.

Der erstgenannte Begriff sollte jeweils immer sehr intensiv und gerne auch länger und umfassender getan werden, als man es vielleicht intuitiv vorhatte. Dann ergeben sich auch bessere Ergebnisse beim zweitgenanten Begriff. Beispiel: Wenn ich zunächst sehr bewusst, gezielt und umfassend beobachte, kann ich anschließend zu einer besseren Bewertung kommen.

Ich finde, dass dieses Manifest für langsames Denkens für die aktuellen KI-Diskussionen wie gemacht ist, denn es handelt sich bei der KI-Entwicklung um einen zutiefst widersprüchlichen und komplexen Prozess.

Als Übertragung finde ich die folgenden drei Orientierungen wichtig:

Erkunden vor Implementierung

Ich nehme in meinen Fortbildungen eine große Sehnsucht danach wahr, das ausgelöste KI-Chaos so schnell wie möglich wieder einzuhegen und innerhalb des bestehenden Bildungs-Rahmens zu implementieren. Dazu gibt es dann Handreichungen, Checklisten, Tool-Empfehlungen und vieles mehr, was Klarheit verspricht. So verständlich diese Entwicklung ist und so sehr sie sicher zum Teil auch hilfreich ist, so gilt zugleich auch, dass damit der eigentlich wichtigste Teil – der Lernprozess – abgekürzt, wenn nicht sogar verhindert wird. Anstatt eine möglichst schnelle und klare Orientierung einzufordern, fände ich deshalb die Forderung nach mehr Zeit und mehr Räumen zum gemeinsamen Erkunden und Lernen viel wichtiger. Und anstatt möglichst schnell zu einer Implementierung zu kommen, fände ich ein bewusstes Umarmen der aktuell bestehenden Offenheit und dem Potential neu und anders zu denken hilfreich.

Die in solch einem Rahmen stattfindenden Lernprozesse sind dann keine ärgerliche Ablenkung bis man dann doch endlich fertig ist und weiß woran man ist. Sondern sie sind der wichtigste Part. Werden auch Lernende in diese Prozesse einbezogen (und nicht nur lernende Lehrende), dann können sie auf diese Weise mit erleben und lernen, wie mit Veränderungen umgegangen werden kann und wie man diesen aktiv gestaltend begegnen kann.

Verständnis vor Nutzung

Beim Versuch, KI möglichst in die Breite der Bildung zu bringen, wird vor allem auch mit dem Versprechen agiert, dass KI einem viel Arbeit abnehmen kann. Zum Beispiel lassen sich Übungsaufgaben zu einem bestimmten Thema oder andere Unterrichtsmaterialien generieren. Ich finde diese Orientierung zum einen verständlich (und oft auch tatsächlich nützlich), zum anderen aber auch gefährlich. Denn solch eine ‚Ich nutze das einfach nur als hilfreiches Werkzeug‘-Perspektive verkennt, dass KI nicht in einem isolierten Raum stattfindet, sondern gesamtgesellschaftlich kontextualisiert werden muss. Zudem wird eine Nutzung als Werkzeug ohne ein Verständnis darüber, dass es sich bei den Tools im Kern um Wahrscheinlichkeitsberechnungen auf Basis riesiger Datenmengen handelt, fast zwangsläufig weniger produktiv sein wird, als wenn dieses Verständnis gegeben ist. Aus diesen beiden Gründen finde ich es wichtig, Nutzung nicht isoliert von Verständnis voranzutreiben und KI in der Bildung nicht nur als Werkzeug, sondern immer auch als Lerngegenstand in den Blick zu nehmen.

Veränderung vor Integration

Je schneller wir KI fest in unserer Bildungssystem implementieren, desto weniger kann sich eine Wirkung als Lernkultur-Veränderungsimpuls entfalten. Genau das war aber in der bisherigen Digitalisierungs-Debatte ein wichtiges und wie ich finde auch sehr berechtigtes Anliegen. Demnach ging und geht es eben nicht vorrangig darum, mit digitalen Werkzeugen zu lehren und zu lernen, sondern gute Bildung in einer zunehmend digital-geprägten Gesellschaft zu gestalten. Auf KI übertragen bedeutet das: Wir sollten weniger den Blick darauf legen, wie wir mit KI lehren und lernen können, sondern mehr, wie gute Bildung in einer zunehmend digital-geprägten Gesellschaft gestaltet sein muss.

Als konkrete Idee nehme ich aus der Educamp-Session dazu mit, eine Umorientierung bei zukünftigen Anfragen vorzuschlagen. Wenn beispielsweise ein Pädagogischer Tag zu KI in einer Schule gestaltet werden soll, dann wäre es z.B. möglich stattdessen einen Pädagogischen Tag zum fächerverbindenden Lernen in einer zunehmend komplexen Welt, zu einer veränderten Prüfungskultur, zu forschendem Lernen in einer KI-geprägten Gesellschaft oder zu mehr Kollaboration in der Bildung zu gestalten. Das bedeutet dann ganz und gar nicht, dass das Thema KI keine Rolle spielt. Stattdessen wäre KI als ein Bestandteil dieses Lernkultur-Veränderungsprozesses eingeordnet.

Fazit

Vielleicht kann solch eine bewusste Umorientierung bei Fortbildungsveranstaltungen und anderen Lernangeboten auch für dich eine Idee sein, die du umsetzen kannst. Oder du meldest dich bei mir und wir gehen das gemeinsam an. 🙂

In jedem Fall bin ich neugierig, auch über andere strategische Einschätzungen zur KI-Debatte in der Bildung zu lesen und sich dazu auszutauschen. Vielen Dank in diesem Sinne an alle Beteiligten in der Session beim Educamp!


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1 Kommentar

@nele Liebe Nele, du wirfst genau die richtigen Fragen auf. Wir sollten Dinge, die wir tun und Tools, die wir nutzen immer kritisch hinterfragen. Seit fünf Jahren versuche ich als Leiterin der Schul-IT der Stadt Norderstedt unsere Lehrkräfte dazu zu bewegen, von der Pädagogik her zu denken und nicht von der Technik oder von Tools. Wenn eine Ausstattungsanforderung (Hard- oder Software) kommt, frage ich immer: Was wollt ihr damit tun? Wie wollt ihr unterrichten?

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