re:publica24 Nachlese 1/3: Meine inhaltlichen Learnings

Ich war zwei Tage lang auf der netzpolitischen Konferez re:publica in Berlin, die in diesem Jahr (2024) unter dem Motto „Who cares?“ stand. Am ersten Tag hatte ich gemeinsam mit Kolleginnen von der Wikimedia einen eigenen Programmpunkt. Ansonsten habe ich die Zeit für Vernetzung und vor allem für mein eigenes Lernen genutzt. Die Programmpunkte zu Bildung und Lernen waren in diesem Jahr zwar leider sehr überschaubar. Umso spannender war es für mich aber, in andere Bereiche reinzuschnuppern und mir zu überlegen, was die Darstellungen jeweils für den Bildungskontext bedeuten. Meine 6 wichtigsten Learnings teile ich in diesem Blogbeitrag.

(Der Blogbeitrag ist Teil 1 meiner insgesamt dreiteiligen re:publica Nachlese. In den anderen beiden Teilen geht es um methodische Ideen zum Remix gehen und um unseren eigenen Programmpunkt.)

Learning 1: Durch die Beschäftigung mit Quanten können wir unser Denken verändern

Quanten sind die kleinsten möglichen Einheiten einer physikalischen Größe. Ein Quant des Lichts ist zum Beispiel ein Photon. Spannend sind Quanten, weil sie sehr verrückte Sachen machen. Zum Beispiel sind sie vor einer Messung in einer so genannten Superposition. Das bedeutet, dass sie nicht an der einen oder an der anderen Stelle sind bzw. die eine oder die andere Eigenschaft aufweisen, sondern sowohl das eine, als auch das andere sein können. Bekannt ist diese Eigenschaft der Superposition durch das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze. Das ist eine (arme!) Katze, die in einem Karton mit einem Mechanismus sitzt, der sie potentiell töten kann. Bevor wir nachsehen, ob die Katze getötet wurde oder nicht, müssen wir in diesem Gedankenexperiment davon ausgehen, dass die Katze zugleich tot und auch lebendig ist.

Für das menschliche Gehirn sind solche Gedankenexperimente nur schwer greifbar – und genau deshalb können sie für die Weiterentwicklung unseres Denkens so hilfreich sein. Denn wir Menschen neigen zu Binarität. Wir ordnen etwas entweder dem einen oder dem anderen zu. Ein sowohl-als-auch Denken anstelle eines entweder-oder Denkens fällt uns dagegen deutlich schwieriger. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Einordnung in Geschlechter. Wir gehen meistens davon aus, dass jemand entweder männlich oder weiblich ist. Wenn dagegen aufgeführt wird, dass es viele Geschlechter gibt, dann stößt das vielfach auf große Irritation. Genau an diesem Beispiel lässt sich dann aber auch direkt zeigen, dass unser Hang zur Binarität unsere komplexe Realität verzerrt. Denn in der Tat lassen sich Menschen eigentlich nicht in dieses binäre Modell einordnen. Während Binarität somit manches Mal durchaus eine Berechtigung hat, um durch eine Komplexitätsreduktion überhaupt handlungsfähig zu sein, verhindert es sehr häufig einen konstruktiven Umgang mit der Komplexität, die uns umgibt. Denn Komplexität wird dann nicht wahrgenommen und aufgegriffen, sondern „weg binarisiert“.

Mein Learning von der re:publica ist vor diesem Hintergrund, dass eine Beschäftigung mit der Quantentheorie dazu beitragen kann, den Umgang mit Komplexität zu schulen. Indem wir uns mit der Theorie beschäftigen, fangen wir an uns Fragen zu stellen, die wir uns sonst wahrscheinlich nicht gestellt hätten. Für die Bildung bedeutet das ein klares Plädoyer für mehr fächerverbindendes Lernen, um genau solche Verbindungen, wie die zwischen Quantenphysik und Gender, überhaupt aufspüren zu können. Und insgesamt kann die Beschäftigung mit Quantenphysik als ein wesentlicher Bestandteil von kritischem Denken gesehen werden.

(Credits für dieses Learning gehen an die Talks von Franz Sitzmann (Von Schrödingers Katze zu Quantencomputern) und von Celestine Kleinesper (Beyond Binary: Wie Quantencomputer und Gender unser Denken ändern) Wer sich weiter mit Quanten beschäftigen will, findet auf der Website von Franz Sitzmann kuratierte Materialien dazu.)

Learning 2: Superintelligenz bei KI ist nur eine anekdotische Evidenz

KI ist keine treffende technische Beschreibung, sondern ein gesellschaftliches Narrativ. Wenn von KI im Sinne von generativen Sprachmodellen wie beispielsweise ChatGPT gesprochen wird, dann gibt es immer wieder Stimmen, die hier schon die Entwicklung einer Superintelligenz ausmachen. Der Bot scheint einen zu verstehen und sich in einen einfinden zu können. Es lässt sich vor diesem Hintergrund die Frage stellen, ob unser Menschsein nicht nur etwas ist, was wir Menschen eben als Einbildung vor uns her tragen, aber dem es eigentlich an einer wirklichen Grundlage mangelt. Wenn man nur individuell mit einem Bot wie ChatGPT chattet, dann lassen sich für diese These schnell viele Belege finden. Denn immer wieder passiert es, dass – so hat es zumindest den Anschein – von einem KI-Sprachmodell mit Verständnis geantwortet wird.

Mein Learning von der re:publica ist hier, dass diese vermeintlichen Belege lediglich eine anekdotische Evidenz sind. Da der Bot sehr eloquent ist, neiden wir Menschen dazu, ihm Glauben zu schenken und ihn als superintelligentes Gegenüber anzuerkennen. Wenn man hier etwas dagegen setzen will, dann reicht ein bisschen individuelles Ausprobieren nicht aus, sondern es braucht systematische Untersuchungen.

Für die Bildung ziehe ich hieraus den Schluss, dass ich es mir in der KI-Debatte bisher oft etwas zu leicht gemacht habe, indem ich selbst einfach so ein bisschen rumprobiert habe bzw. auch anderen Lernenden dazu geraten habe. Wichtiger scheint mir nun, die Entwicklung eines kritischen Blicks auf die Sprachmodell-Bots von Anfang an zu stärken und im Sinne eines kritischen Denkens dabei zu unterstützen, wie ein systematisches Hinterfragen von Antworten aussehen kann.

(Credits für dieses Learnig gehen an Eva Wolfangel und ihren Talk: Wo stehen Chatbots auf dem Weg zur Superintelligenz?)

Learning 3: Reichweite auf Social Media ist ein Taschenspielertrick

Wenn im aktuellen Social Media Wirrwarr über die Auswahl einer guten Plattform zur Online-Vernetzung reflektiert wird, dann landet man früher oder später beim Argument der Reichweite. Es wird also überlegt, wie viele Accounts auf einer bestimmten Plattform erreicht werden können und wo diese Reichweite am größten ist.

Mein Learning von der re:publica ist, dass diese Reichweite im Grunde nichts anderes als ein Taschenspieler-Trick der Plattform-Betreiber ist. Denn erstens kann ich ihre Angaben zur Reichweite nicht überprüfen. Zweitens können Accounts, die ich angeblich erreiche, nicht nur Menschen oder Orgaisationen sein, sondern Bots. Und was nützt es, wenn ich mit meinen Posts Tausende von Bots erreiche?

Für die Bildung leite ich daraus den wichtigen Auftrag ab, Menschen dazu zu ermächtigen, sich das Web wieder zurück zu holen und es selbst zu gestalten. Das kann über die Nutzung des Fediverse als selbstbestimmter und demokratischer Raum zur Online-Vernetzung sein, über die Gestaltung von eigenen Websites, Blogs oder Podcasts und auch über die Nutzung der vermeintlichen ‚Steinzeit-Technologie‘ RSS. All das war mir auch schon vor der re:publica nicht fremd und es entspricht meiner eigenen Praxis. Ich bin aber nun sehr bestärkt darin, dass es eine sinnvolle Orientierung ist, die ich auch stärker in meinen Lernangeboten aufgreifen und weitergeben kann, wenn so viele andere Netzkultur-Nerds an dieser Stelle zum gleichen Schluss kommen, wie ich 🙂

(Credits für dieses Learning gehen an das Panel: Verloren auf Plattformen – und hier insbesondere an die Beiträge von Dirk von Gehlen.)

Learning 4: KI birgt nicht nur potentielle Risiken, sondern hat real schädliche Auswirkungen

Eine beliebte Darstellung in KI-Debatten ist die Gegenüberstellung von Chancen und Risiken. Wer in diesem Sinne KI vermeintlich ausgewogen darstellt, erntet meist viel Zustimmung. Allerdings ist ein Risiko nur etwas, das potentiell auftreten kann. Von Risiken zu sprechen, ist deshalb etwas anderes, als auch direkt auf die Schäden hinzuweisen, die von KI-Sprachmodellen verursacht werden. Ein sehr offensichtlicher Schaden ist z.B. die Ressourcenverschwendung, die bei der Nutzung von KI-Sprachmodellen zu beobachten ist. Daneben gibt es ganz konkrete soziale Verwerfungen, wo Menschen durch KI-Anwendungen diskriminiert wurden.

Mein Learning ist vor diesem Hintergrund, dass die KI-Debatte oftmals nur vermeintlich ausgewogen ist. Wer echte und grundlegende Kritik übt, sieht sich schnell in eine Ecke mit grundsätzlichen Digitalisierungsgegnern gedrängt. Ich nehme außerdem mit, dass es immer lohnend ist, von KI erst einmal gar nichts zu erwarten. KI wird uns nicht retten. Das können nur wir selber tun. Im Talk wurde das wie folgt gefasst: Wenn jemand KI sagt, dann fragt nach Bildung, Gleichberechtigung, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Umweltschutz, Arbeitsplätzen und allem, was euch sonst noch wichtig ist.

Für die Bildung ist mir bei diesem Learning wichtig, dass wir diese Perspektive stärker aufgreifen.

(Credits für dieses Learning gehen an Matthias Spielkamp mit dem Talk: KI wird uns alle retten! Es sei denn, sie tut es nicht. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir, dass es den Profiteuren, insbesondere die Unternehmensbeteiligten von KI gelingt, den Diskurs zum Thema zu dominieren. Sie werden mit Abstand am häufigsten zitiert.)

Learning 5: Das Prinzip der Pre-Empathie kann Zusammenarbeit verbessern

Pre-Empathie in der Zusammenarbeit bedeutet, dass ich mir bei meinen Handlungen immer überlege, was daraus für mein Gegenüber folgt. Beim Eiskauf könnte Pre-Empathie zum Beispiel so aussehen, dass ich nicht erst meine gewünschten Sorten aufzähle, sondern erst einmal sage, wie viele ich insgesamt will und ob im Becher oder in der Waffel. In Arbeitszusammenhängen gibt es dafür noch viel mehr Beispiele:

  • Leite ich z.B. eine Mail einfach nur weiter oder schreibe ich dazu, was der Empfänger damit machen soll?
  • Schreibe ich eine Kalendereinladung so, dass der Titel auch im Kalender meines Gegenübers sinnvoll ist? (Das Gegenteil wäre der Fall, wenn ich von jemandem zu einem ‚Brainstorming mit Nele‘ eingeladen werde und das dann in meinem Kalender steht)
  • Nutze ich absolute Zeitangaben (am 30. Mai), statt relativer Zeitangaben (morgen), weil ich nicht weiß, wann mein Gegenüber meine Nachricht liest?

Weiterführend gedacht gelten als Gegenüber in der Zusammenarbeit nicht nur andere Menschen, sondern auch mein zukünftiges Ich. Das kann ich zum Beispiel bei der Frage berücksichtigen, wie ich eine Datei benenne, so dass ich sie später wieder finde.

Mein Learning von der re:publica ist, dass ich in Hinblick auf Pre-Empathie in meiner Arbeit durchaus an der einen oder anderen Stelle noch Nachholbedarf habe und dass es sich lohnt, das Prinzip bei der Zusammenarbeit mit anderen immer im Kopf zu haben. Außerdem hilft es glaube ich, darüber in ad hoc Teams zum Kick-Off explizit zu sprechen und darauf aufbauend die Zusammenarbeit zu planen.

(Credits an dieses Learning gehen an Jöran Muuß-Merholz und seinen Talk: „Ein How-to für bessere Zusammenarbeit! Wie das doppelte Gegenteil von Prokrastination helfen kann.“ Im Spätsommer soll zu diesem Thema von ihm übrigens auch ein Buch erscheinen. Mehr Infos dazu gibt es auf der Website the-way-we-work.de)

Learning 6: Gemeinwohlorientierte Digitalisierung ist eine wichtige, öffentliche Herausforderung

Digital Commons sind Gemeingüter im digitalen Raum. Mehr und mehr setzt sich hier die Erkenntnis durch, dass diese zwar nicht so endlich sind, wie materielle Güter, aber trotzdem nicht unendlich. Wenn alle sie nur nutzen, aber nichts dazu beitragen, dann nutzen sie sich ab und funktionieren mit der Zeit immer schlechter. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass für Digital Commons, auf die wir alle angewiesen sind, mehr öffentliche Verantwortung übernommen wird. Dieser Herausforderung stellt sich zum Beispiel der Sovereign Tech Fund.

Mein Learning von der re:publica ist, dass es hier einen großen Handlungsbedarf gibt, der mir bisher noch gar nicht wirklich bewusst war. Ich fand es interessant, erste Einblicke darin zu bekommen. Für die Bildung und insbesondere die OER-Community nehme ich mir mit, dass wir uns über die benötigte digitale Infrastruktur zur OER-Arbeit wahrscheinlich auch mehr Gedanken machen sollten, als wir es bisher tun. Was es da bereits gibt, wer es finanziert und was von wem wie gebraucht wird, wäre vielleicht mal eine spannende Session für ein OERcamp.

(Credits an dieses Learning gehen an Adriana Groh, Katharina Meyer, Aline Blankertz und Lea Gimpel für ihren Talk Digital Commons, digitale öffentliche Güter, digitale Souveränität – eine Anleitung für den Diskurs der gemeinwohlorientierten Digitalisierung.)

Mein Fazit

Für mich hat sich der Besuch der re:publica sehr gelohnt. Während ich ansonsten eher auf Barcamps und anderen offenen Veranstaltungsformaten lerne, war es auch mal eine spannende Erfahrung, diese beiden Tage eher ‚konsumierend‘ unterwegs zu sein und bei Vorträgen zuzuhören. Ich bin gespannt, was sich aus meinen Learnings nun weiter ergibt. Und ebenso bin ich neugierig, auch von deinen Learnings zu lesen 🙂.

[Teil 2 meiner re:publica Nachlese mit methodischen Ideen findest du hier. Teil 3 der re:publica-Nachlese ist hier.]


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