Offene Lernformate und Peer-to-Peer Lernen im Online-Kontext umsetzen

Ich bin auf dem Rückweg aus Göttingen. Hier fand heute ein Netzwerktreffen von Dozent*innen in der beruflichen Weiterbildung des IBB (Institut für berufliche Bildung AG) statt. Ich war zu einem pädagogischen Impuls zum Thema ‚Offene Lernformate und Peer-to-Peer Lernen im Online-Kontext‘ eingeladen, der sehr interaktiv gestaltet werden sollte. In diesem Blogbeitrag möchte ich die wesentlichen Inhalte des Impulses zum Weiternutzen teilen und zugleich darstellen, wie ich methodisch vorgegangen bin. Vielleicht kann das für Menschen hilfreich sein, die inhaltlich Interesse an dem Thema haben und/oder die sich überlegen, wie sich das klassische Vortragsformat relativ niederschwellig (und wie ich finde sehr wirkungsvoll) in ein interaktives Austauschformat mit Impulsen verwandeln lässt. Außerdem ist der Blogbeitrag als Dokumentation für die Teilnehmer*innen gedacht.

Mein Impuls

Wie oben bereits angedeutet, habe ich meinen Impuls sehr interaktiv und austauschorientiert angelegt. Das finde ich in sehr vielen Fällen sinnvoll. Wenn es um Peer-to-Peer Lernen und offene Lernformate geht, dann ist es auch inhaltlich direkt begründet. Es wäre ja fast ein Widerspruch in sich, dieses Thema in Form eines frontalen Inputs zu behandeln. Die heutige Herausforderung bestand darin, dass das Thema für viele Teilnehmer*innen eher neu war. Deshalb habe ich Impulse und Erklärungen mit Interaktionsaufgaben kombiniert.

1. Kurzes Intro und direkter Austausch

Los ging es mit lediglich einer kurzen Vorstellung und den wichtigsten ‚Regeln‘ (1. Wir nutzen ein striktes ‚Timeboxing‘ bei den Austauschübungen. = nach einer zuvor festgelegten Zeit wird abgeklingelt. 2. Alle können gerne das ‚pädagogische Du‘ nutzen. 3. Der Input und die gemeinsamen Erarbeitungen werden nachher für alle aufbereitet und auch öffentlich geteilt).
Danach folgte direkt die erste Praxisübung: Zunächst schrieben die Teilnehmer*innen in 2 Minuten für sich eine möglichst konkrete berufliche Herausforderung auf, vor der sie aktuell stehen. Anschließend durfte 10 Minuten lang durch den Raum gewuselt und nach Hinweisen, Vorschlägen und Erfahrungen zur notierten Herausforderung erfragt werden. Zugleich konnte natürlich auch immer anderen soweit möglich bei ihren Herausforderungen geholfen werden.

Diese Übung klappte sehr gut: Alle kamen miteinander ins Reden und viele konnten schon erste hilfreiche Learnings für sich mitnehmen.

2. Fünf Schritte zu Peer-to-Peer Lernen und offenen Lernformaten

Das durchgeführte Mini-Live-Experiment zum Einstieg konnte ich im nächsten Schritt als konkretes Anschauungsbeispiel für die Erklärung nutzen, was überhaupt mit Peer-to-Peer Lernen und offenen Lernformaten gemeint ist.

Hierzu habe ich 5 Aspekte vorgestellt:

Zum Abschluss der Vorstellung dieser 5 Punkte gab es die Möglichkeit zu ihrer Rekapitulation in einer kurzen Murmelrunde mit den Nebensitzer*innen. Als Gedankenstütze waren die zuvor 5 verwendeten Bilder auf einer Folie eingeblendet. Zugleich konnten weitere Aspekte in einem Mindwendel ergänzt werden. (Dies wurde weniger genutzt – stattdessen lief ich durch die Reihen und wurde direkt angesprochen oder Teilnehmerinnen hielten für sich noch offene Fragen fest.)

Folie zur Rekapitulation und Ergänzung der 5 vorgestellten Schritte

Ich war mir in der Vorbereitung unsicher, ob solch eine Aufforderung zur Rekapitulation in Murmelrunden nicht zu sehr ‚Dummi-Aufgabe‘ im Sinne von ‚Wir plappern für uns nochmals nach, was wir gerade gehört hatten‘ sein könnte. Die Beobachtung bei der Durchführung hat mich dann heute aber sehr überzeugt, wie sinnvoll es ist (und ich werde das zukünftig sicherlich häufiger so machen). Denn die Teilnehmer*innen plapperten natürlich nicht einfach nur für sich das zuvor Gesagte nach, sondern reflektierten zugleich darüber vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen und ihres Kontexts.

3. Mögliche Stolpersteine oder Widerstände

Im nächsten Schritt habe ich vorgestellt, was häufige Stolpersteine bei der Umsetzung von Peer-to-Peer Lernen und offenen Lernformaten sein können – und wie ich versuche, damit umzugehen:

  1. Die Erwartungshaltung der Lernenden ist oft so, dass Input und ‚Konsum‘ von Lerninhalten erwartet wird. Ich finde es hier hilfreich, transparent zu kommunizieren, was Lernende in einem Lernangebot erwartet. Außerdem kann auch auf einer Meta-Ebene deutlich gemacht werden, warum solch ein verändertes Lernen bewusst gewählt wird.
  2. Lehrende haben oft ein Selbstbild, was nicht zu Peer-to-Peer Lernen und offenen Lernformaten passt. Wer sich eher in der Rolle sieht, den Lernenden Input zu vermitteln und Inhalte zu erklären, muss sich zunächst umstellen. Hilfreich finde ich hier die Erkenntnis, dass die veränderte Lernkultur aber ja in keinem Fall bedeutet, sich selbst überflüssig zu machen, sondern eben eine veränderte Rolle zu haben: hin zur Gestaltung von Lernräumen, Kuratierung und Entwicklung von Lerninhalten, Begleitung von Lernprozessen sowie Unterstützung und Motivation.
  3. Am Ende eines Lernangebots steht oft eine Prüfung. Zum Bestehen dieser Prüfung sind in vielen Fällen nicht die Kompetenzen erforderlich, die in Peer-to-Peer Lernformaten erlernt werden. Stattdessen geht es vielfach um die Wiedergabe von Faktenwissen. Hier hilft es, mit Lernenden offen zu besprechen, dass das Lernangebot so gestaltet wird, dass es zum Bestehen der Prüfung reicht – aber ansonsten den Fokus lieber so zu setzen, dass Kompetenzen entwickelt werden, die im späteren beruflichen Kontext wahrscheinlich sehr viel dringender gebraucht werden.
  4. Peer-to-Peer Lernen und offene Lernformate können bei Lernenden, die bislang nicht gelernt haben, Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess zu übernehmen, zu Überforderung und Frustration führen. Hier finde ich eine kluge didaktische Gestaltung wichtig, bei der man sich am Modell von didaktischen Schiebereglern orientieren kann. Das bedeutet: Man muss sich nicht voll und ganz für das eine und gegen das andere gestalten, sondern kann versuchen, mit so viel Offenheit und Austausch wie möglich zu konzipieren, aber zugleich auch so viel ‚klassisches‘ Lernen wie nötig anzubieten.

Auch diese Stolpersteine habe ich zum Weiternutzen basierend auf den verwendeten Bildern in der Präsentation als H5P-Inhalt aufbereitet.

4. Und wie ist das im Online-Kontext?

Die Dozent*innen des heutigen Netzwerktreffens lehren alle rein im Online-Kontext. Deshalb haben wir uns im nächsten Schritt angesehen, was bei offenen Lernformaten und Peer-to-Peer Lernen im Online-Kontext wichtig ist. Ich habe dazu drei ‚Stellschrauben‘ vorgestellt, mit denen eine Umsetzung solch einer veränderten Lernkultur gerade im Online-Kontext aus meiner Sicht sehr gut realisierbar ist.

  1. die Zeit: Bei Veranstaltungen vor Ort gibt es immer Aufwand für An- und Abreise und das Lernangebot ist deshalb zeitlich sehr klar getaktet. Im Online-Kontext kann mit der Zeit deutlich flexibler umgegangen werden: kleinere Lerneinheiten, asynchrones Lernen über einen längeren Zeitraum, unterschiedliche Zeiten für unterschiedliche Lernende …
  2. die Selbstlernphasen: Auch bei Lernen vor Ort kann man ‚flipped‘-Lernphasen gestalten. Das bedeutet: Input vorab zum Selbstlernen zur Verfügung stellen! Wenn ohnehin alles online ist, liegt das aber noch ein bisschen mehr auf der Hand. So muss synchrone Zeit nicht für Input verwendet werden. Stattdessen können Lernende asynchron im eigenen Tempo lernen. Die synchrone Zeit kann dann für Austausch, Nachfragen und Diskussion genutzt werden.
  3. die BreakOut-Räume: Natürlich lassen sich auch vor Ort Kleingruppenarbeiten gestalten. Im Online-Kontext mithilfe von Breakout-Räumen in Videokonferenzen ist der Raum aber völlig flexibel, und die Zusammenarbeit lässt sich zeitlich sehr genau takten.

Als Bonus habe ich noch die Möglichkeiten einer kreativen Netzkultur erwähnt, die sich zum Beispiel in Internetquatsch zeigt. Es ist vor diesem Hintergrund sehr gut möglich, sich am Ende der Konzeption eines Lernangebots zu überlegen, wie man mit dieser Hilfe noch etwas Glitzerstaub über das Lernangebot streuen kann, um es freundlicher, fröhlicher und lachender zu gestalten.

An diese Vorstellung der Besonderheiten des Online-Lernens schloss sich die Kopfstand-Methode an: Gesucht waren dümmstmögliche Ideen, mit denen gutes Peer-to-Peer Lernen und offene Lernformate im Online-Kontext garantiert nicht gelingen. Diese Methode ist nicht nur hilfreich, um das Denken zu öffnen, sondern sorgt auch für etwas Auflockerung. Außerdem passiert es oft, dass man seine eigenen Verhaltensweisen in den entwickelten ‚dümmstmöglichen‘ Ideen zumindest ein bisschen wieder entdeckt – und dann für sich hinterfragen kann.

5. Inspirationsdusche: Best Practice reflektieren

Bis hierher war mein Impuls eher auf einer Meta-Ebene. Somit wurde es jetzt höchste Zeit, die Frage zu beantworten, wie sich diese Ideen denn nun ganz konkret im Online-Kontext umsetzen lassen. Ich hatte dazu eine ‚Inspirationsdusche‘ mit 15 Best-Practice-Beispielen zusammen gestellt, die ich in meiner Arbeit in den letzten Jahren entwickelt, ausprobiert und für gut befunden habe:

Inspirationsdusche bedeutet, dass ich diese Beispiele nicht frontal vorstellte, sondern dass die Teilnehmer*innen sich in Kleingruppen zusammenfanden, sich die Ideen heraussuchten, die für sie spannend klangen und dann gemeinsam darüber reflektierten, ob/wie sich das in die eigene Praxis übertragen lässt. (Wenn die Zeit nicht für alle Ideen reicht, steht die Sammlung ja auch noch nach der Veranstaltung zur Verfügung.)

6. Eigene Entwicklung: Was sind unsere Ideen?

Zum Abschluss waren die Teilnehmer*innen dann eingeladen, aufbauend auf dem Impuls und ihren Learnings in den zahlreichen Austauschrunden zur Entwicklung von eigenen Ideen zu kommen. Ich habe hierzu das sehr bewährte ‚Gegenstände-Brainstorming‘ genutzt. Jede Person erhält einen zufälligen, von mir mitgebrachten Gegenstand (eine Kerze, einen Massageball, ein Legomännchen, einen Teebeutel, ein Kabel …). Anschließend werden Gruppen mit 3-5 Personen gebildet. In den Gruppen tauschen sich dann alle dazu aus, auf welche Assoziationen sie die verteilten Gegenstände bringen. Die entwickelten Ideen können auf Karteikarten notiert und anschließend an eine Pinnwand angepinnt werden. Dort blieben sie im Verlauf der weiteren Veranstaltung zur Inspiration.

Es wurden die folgenden Ideen in ca. 6 Minuten notiert und geteilt:

  • Mit angeschalteter Kamera in Lernangebote einsteigen.
  • Mit der 6-5-3 Methode arbeiten (Erklärung dazu z.B. in der Wikipedia).
  • Mit Videos und Audios als Flipped-Inhalte arbeiten.
  • Individuelle Gaben fördern.
  • Einzelne Wissensbausteine vorbereiten und verteilen.
  • ‚Feuer‘ für das Lernen entfachen.
  • Highlights sammeln: Was war meine persönliche Sternstunde heute?
  • Ideen sammeln im Sinne des Spiels ‚Kofferpacken‘: Jede Person gibt eine weitere Idee hinein!
  • Am Ende teilen, was jede Person für sich mitnimmt.
  • Mit dem Zufall spielen: zum Beispiel Gruppen zusammenwürfeln, Themen auswählen …
  • Lernende immer wieder in kleineren Gruppenarbeiten vernetzen.
  • Kurzes Anteasern von Inhalten, um auf den Geschmack zu bringen. (Gegenstand war eine Zuckerstange)
  • Glücksrad als Methode nutzen z.B. zur Methodenauswahl oder als Feedback.

Wichtig finde ich hier, dass es sich um Ergebnisse handelt, die aus der Gruppe der Teilnehmer*innen selbst entwickelt wurden. Das bedeutet eine große Chance, dass sie auch zur Umsetzung gebracht werden. Die Aufgabe war deshalb auch gar nicht, sehr spektakuläre oder neue Ideen zu entwickeln, sondern Ideen, die gleich in der kommenden Woche umgesetzt werden können.

Mein Fazit und Danke

Drei Punkte halte ich als Learnings und Beobachtung fest:

  1. Ich finde, dass es sich sehr lohnt, ein klassisches Vortragsformat in ein interaktives Austauschformat mit Impulsen zu verwandeln. In einem klassischen Vortrag mit ca. 30-40 Minuten und anschließender Frage und Antwort Runde hätte ich heute nicht mehr Impulse unterbringen können. Zusätzlich hatten die Teilnehmer:innen in dieser Variante zugleich die Möglichkeit, über diese Impulse zu reflektieren, auch selbst etwas zu entwickeln und den Transfer in ihre berufliche Praxis gemeinsam mit Kolleg*innen sehr konkret zu überlegen. Solch ein interaktiver Ansatz eines Vortrags ist also unbedingt zum Nachmachen empfohlen!
  2. Wenn eine Präsentation rein mit Bildern gestaltet wird, lassen sich verwendete Folien mit relativ wenig Aufwand mithilfe der Software H5P, so wie Du es oben in dem geteilten Image Hotspot siehst, inhaltlich anreichern. So entstehen für die Teilnehmer*innen (und auch alle anderen, die daran interessiert sind) weiternutzbare Inhalte zum Thema. Meiner Einschätzung nach sind diese hilfreicher, als geteilte Präsentationsfolien (Wer die Präsentation dennoch sucht, sie ist hier abrufbar – alle Bilder sind mit Midjourney generiert und soweit möglich unter CC0 1.0 freigegeben). Auch die Inhalte der Inspirationsdusche habe ich dieses Mal – mit der anschließenden Möglichkeit zur Weiternutzung im Blick – mit H5P gestaltet.
  3. Für mich interessant fand ich, dass ich in den Gesprächen mit den Kolleg*innen aus der beruflichen Weiterbildung auf sehr ähnliche Herausforderungen gestoßen bin, wie ich sie auch aus dem schulischen oder hochschulischen Kontext kenne. Insbesondere das Dilemma, sehr gerne zu Veränderungen in der Lernkultur kommen zu wollen, aber zugleich auch auf Prüfungen vorbereiten zu müssen, die solch eine veränderte Lernkultur (noch) nicht bzw. zu wenig abbilden. Auch das Thema KI wurde viel diskutiert.

Abschließend ein herzliches Dankeschön für die Einladung und die aktive Beteiligung! Ich fand es einen sehr guten Austausch und konnte auch selbst einiges mitnehmen. Wenn Du jetzt ebenfalls Lust hast, solch einen interaktiven Vortrag oder ein anderes Lernangebot mit mir gemeinsam zu gestalten, dann freue ich mich über Deine Anfrage :-)

Das Beitragsbild ist mit Midjourney erstellt und war Teil der verwendeten Präsentation. Wie diese ist es freigegeben unter CC0 1.0.


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