Seit über einem Jahr war ich coronabedingt nicht mehr bei einer Veranstaltung an einem physischen Ort. Nun gibt es erste Anfragen und Einladungen für Veranstaltungen für den Herbst, die wieder an einem physischen Ort stattfinden sollen. Zurück also zur früheren Normalität? Lieber nicht! Ich habe 10 Wünsche und Ideen aufgeschrieben, die ich auf Basis der Erfahrungen mit dem Online-Lernen in den letzten Monaten wichtig finde:
1. Bewusste Wahl
Wenn ich während der Corona.Pandemie eine Anfrage oder Einladung zu einer Veranstaltung erhielt und nichts anderes dabei stand, war klar: Sie wird online stattfinden! Vor Corona war das genau umgekehrt: Wäre eine Veranstaltung online geplant gewesen, hätte man das explizit begründet und erläutert.
Mein erster Wunsch für Veranstaltungen an physischen Orten ist vor diesem Hintergrund, dass sie nicht wieder zum de facto Standard werden. Das soll nicht heißen, dass ich keine Veranstaltungen an physischen Orten möchte, aber ich wünsche mir ein bewusstes Abwägen: Sollen wir die Veranstaltung online machen, als Blended-Angebot mit offline und online Phasen oder nur an einem physischen Ort?
Weder wäre dann die Online-Veranstaltung das ‘Normale’, noch die Veranstaltung an einem physischen Ort, noch irgendetwas dazwischen. Stattdessen würde jedes Mal wieder bewusst entschieden, was im jeweiligen Kontext besser passt.
2. Blended-Verknüpfungen
Methodisch habe ich während der Corona-Zeit sehr viel mit Flipped-Input gearbeitet: Vorab gab es Materialien zum Selbstlernen; anschließend war während einer synchronen Videokonferenz Zeit und Raum für Fragen, Austausch und Diskussion. Im Rahmen eines Blended-Konzepts lässt sich an solch einem Flipped-Ansatz weiter denken. Denn grundsätzlich hat man ja deutlich mehr Variations- und Kombinationsmöglichkeiten, wenn man nicht nur asynchron und synchron in der Online-Variante, sondern auch an physischen Orten miteinander verbinden kann.
Neben dem klassischen ‘Flipped Online Input’ wäre zum Beispiel denkbar:
- Es kommen ‘Regional-Gruppen-Treffen’ im Vorfeld einer Veranstaltung zusammen, die anschließend ihre Ergebnisse zu einer gemeinsamen Veranstaltung an einem zentralen Ort mitbringen.
- Und/ oder solch ein Regional-Gruppen-Treffen wird als Nachbereitung einer Veranstaltung an einem physischen Ort angeboten.
- Es gibt thematische Vorbereitungsgruppen, die sich online treffen und später bei der physischen Veranstaltung einen Teil des Programms übernehmen.
- Eine physische Veranstaltung wird um einige Online-Programmpunkte verlängert, z.B. ein Online-Barcamp mit Sessions zu Fragestellungen, die sich im Rahmen der Veranstaltung ergeben haben.
- Nach einer physischen Veranstaltung laden Anbieter*innen zu einer Online-Reflexion darüber ein, ob die eigenen Vorhaben umgesetzt wurden.
- …
3. Neue Wege für ‘Vorträge’
Wenn Veranstaltungen online stattfinden, dann ist es relativ einfach, Vorträge, die einem nicht weiterhelfen, zu überspringen, indem man kurz sein Mailprogramm öffnet oder noch fix die Waschmaschinen-Ladung auf die Wäscheleine bringt. Bei Veranstaltungen an physischen Orten hat man sein Mailprogramm wahrscheinlich auch dabei – und kann also mindestens auf diese Weise entfliehen. Wirklich zufriedenstellend ist das aber in beiden Fällen nicht.
Von Veranstaltungen an physischen Orten wünsche ich mir hier – ähnlich wie es im letzten Jahr auch im Online-Raum erprobt wurde – Experimentieren mit neuen Formen von Input bzw. Vorträgen. Erste Ideen wären, Vorträge radikal zu kürzen, interaktiver und zum Mitmachen zu gestalten (nicht nur mit Abstimmungstools, sondern vielleicht auch als Positionierung im Raum), als Podium und/ oder mit Fishbowl zum Mitreden machen, keine vorbereitete Folien erlauben, sondern zu den Fragen aus der Konferenz sprechen, vorab aufzeichnen und dann in mehreren parallelen Diskussionsrunden bereden … Es gibt sicherlich noch viel mehr Möglichkeiten, wenn man ‘Vorträge’ weiter denken will.
4. Bewusste Pause von anderem & Perspektivwechsel
Online lernen passiert oft nebenher, mit allen damit verbundenen Vorteilen (Flexibilität) und auch Nachteilen (Überforderung, Multitasking, Unkonzentriertheit). Bei Veranstaltungen an physischen Orten freue ich mich vor diesem Hintergrund vor allem darauf, mal wieder ‘richtig’ an einer Veranstaltung teilzunehmen. Das bedeutet: Es gibt nichts, was nebenher und zusätzlich im Kalender steht oder im Home-Office wartet, sondern ich bin weg und für 1-2 Tage nicht zu erreichen – weil eben auf einer Veranstaltung.
Veranstaltung in diesem Sinne bedeutet aus anbietender Perspektive auch, dass man konzeptionell mit einer (zumindest halbwegs) festen Gruppe rechnen kann: Menschen kommen zusammen und verbringen einen längeren Zeitraum miteinander. Bei Online-Veranstaltungen ist die Teilnahme dagegen viel fluider.
Damit diese ‘Volle Konzentration auf diese eine Sache’-Veranstaltungen funktionieren und hilfreich sind, wünsche ich mir, dass bei diesen Veranstaltungen dann viel Wert gelegt wird, auf ‘Zwischenräume’, auf Austausch und auf bewusstes Zeit nehmen für den oft erst durch den Abstand möglichen Perspektivwechsel.
5. Kids welcome!
Die Partizipation von (insbesondere jüngeren) Kindern war aus meiner Sicht eine der großen Leerstellen während der Corona-Zeit. Ich weiß, dass einige (mich eingeschlossen) mit Kinderbetreuungs-Angeboten und auch Austausch-Angeboten experimentiert haben. Der Knackpunkt daran war aus meiner Sicht aber immer, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter sich noch nicht wirklich gut eigenständig untereinander online austauschen können, sondern entweder dabei betreut werden müssen, sich bereits vorab kennen oder direkt eine moderierende Person mindestens für einen Teil der Zeit anwesend sein muss. Dazu kamen oft Bandbreiten- oder fehlende Endgeräte-Probleme, wenn zusätzlich noch Home-Office stattfand.
Von Veranstaltungen an physischen Orten wünsche ich mir vor diesem Hintergrund, dass sie Kinder mehr noch als bisher bei der Konzeption mitberücksichtigen: weniger als separate Kinderbetreuung, sondern als Teil der Veranstaltung. Die Educamps zeigen schon seit vielen Jahren, wie toll auf diese Weise ein Lernen zwischen den Generationen möglich sein kann.
6. Smartphone-Normalität
Bei Online-Veranstaltungen war und ist aktive Teilnahme an Veranstaltungen vor allem auch dadurch gekennzeichnet, dass Lernende auf einem Whiteboard mitschreiben, nebenher twittern oder einen kollaborativen Mitschrieb anfertigen. Diese zusätzliche Online-Ebene wünsche ich mir auch weiterhin für physische Veranstaltungen. Das ist im Prinzip nicht Neues, denn schon vor Corona hatte bei fast allen Veranstaltungen alle Teilnehmenden ein Smartphone dabei. Trotzdem wurde das damit verbundene Potential längst nicht bei allen Veranstaltungen genutzt. Vielleicht können die Erfahrungen des Online-Lernens dazu beitragen, dass dies zukünftig häufiger geschieht.
7. Hands-On
Hands-On geht natürlich auch irgendwie online – z.B. wenn jede Person für sich etwas entwickelt oder online zusammen an etwas gearbeitet wird. Aber gemeinsam an etwas nicht-Digitalem zu werken, setzt dann doch einen gemeinsamen, physischen Raum voraus. Schon vor Corona habe ich gemeinsames Zeichnen, Kneten, Lego bauen … im Rahmen von Design Thinking Workshops sehr gerne gemacht. Mit der ‘Lücke’ durch die Corona-Zeit hoffe ich, dass es erst einmal viel ‘Nachholhunger’ auf solche Möglichkeiten gibt – und sie so zu einem häufigeren Bestandteil von physischen Veranstaltungen werden.
8. Raum-Experimente
Als im Winter 2020 coronabedingt alles entweder abgesagt oder in den Online-Raum verlegt wurde, gab es gefühlt eine riesige Experimentierfreude zur Gestaltung des Online-Raums. Auf der einen Seite gab es technische Entwicklungen zu neuen, innovativen Videokonferenzlösungen (gather.town, wonder.me, spatial.chat …); auf der anderen Seite und vor allem erprobten Lehrende und Lernende, wie Bildung online gut funktionieren kann. Es gab dazu nur wenig feststehende Regeln und damit die Möglichkeit, sehr offen und neu zu denken.
Diese Offenheit wünsche ich mir nun in Bezug auf den physischen Raum von Veranstaltungen: Wie kann der physische Raum möglichst gewinnbringend genutzt werden? Braucht es Reihenbestuhlung oder überhaupt Stühle? Was können wir in gemeinsame Spaziergänge nach draußen verlagern? Wo und wie lassen sich Kleingruppenräume gestalten? Wie kann man das Drumherum des jeweiligen physischen Ortes in die Veranstaltungskonzeption einbeziehen? …
9. Online-Only Teilnahmemöglichkeit
Auch online kann man sich nicht zerteilen, aber das Hopping zwischen mehreren Online-Veranstaltungen ist doch deutlich einfacher, als bei physischen Veranstaltungen. Hinzu kommt häufig ein größerer Aufwand für die Anreise. Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir bei physischen Veranstaltungen dort wo es sinnvoll ist eine Art ‘Online Only’ Teilnahme. Ich stelle mir das ein bisschen so vor, wie wenn ich eine spannende Website entdecke und dort Updates abonnieren kann und/ oder einem Account auf Twitter folge. Auf ähnliche Weise könnten Menschen, die nicht an einer Veranstaltung teilnehmen können, sich immerhin für Infos über die Veranstaltung eintragen. Sie erhalten auch eventuell angebotene Materialien und können vielleicht auch (mit entsprechendem Vermerk) auf eine Teilnahmeliste aufgenommen werden. Und vor allem würden sie anschließend die ‘Ergebnisse’ der Veranstaltung in Form einer Dokumentation erhalten.
Ich erhoffe mir davon insbesondere, dass dieses Angebot den Druck für eine gute Dokumentation erhöht. Es warten dann ja nicht nur die Teilnehmer*innen, sondern potentiell auch viele andere Menschen darauf. Vielleicht kann man es perspektivisch auch als eine Art ‘Crowdfunding’ für gute Veranstaltungsnachbereitung konzipieren.
10. Singen & spielen
Ich mochte es schon früher gerne, wenn bei Veranstaltungen an physischen Orten gesungen und gespielt wurde. Allerdings meist nur als teilnehmende Person. Zumindest in Hinblick auf das Spielen habe ich dann aber bei Online-Veranstaltungen auch in der Rolle der lehrenden Person einiges ausprobiert und viel Spaß dabei gehabt. Umso mehr freue ich mich nun auf physische Veranstaltungen, denn hier gibt es noch einmal sehr, sehr viele Möglichkeiten mehr dazu. Und anders als bei Online-Veranstaltungen kann man auch gemeinsam singen :-)
Fazit: Raum zum Experimentieren beibehalten!
Die 10 genannten Punkte sind nur ein paar Ideen, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an zukünftige Veranstaltungen denke. Am wichtigsten ist mir dabei der übergreifende Wunsch: Der coronabedingte Experimentier- und Ausprobier-Modus bei Veranstaltungen hat mir sehr viel Freude gemacht. Ich hoffe, dass wir diesen als neue Normalität beibehalten können – völlig unabhängig davon, ob wir uns vor Ort treffen oder in einem Online-Raum.
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