Offene Lernformen und Notenfreiheit aus Elternperspektive

Wenn an Schulen offene Lernformen eingeführt werden sollen und Notenfreiheit angestrebt wird, sind es oft nicht nur fehlende strukturelle Rahmenbedingungen oder Widerstände in den Kollegien selbst, die den Weg dorthin erschweren. Vielfach kommt Widerstand oder mindestens Unverständnis auch von Seiten der Eltern: Wird mein Kind dann noch genug lernen? Woher kann ich wissen, wie gut es im Vergleich zu anderen Kindern ist? Wird es mit solch einer ‚Kuschelpädagogik‘ dann überhaupt auf das spätere Leben vorbereitet? Ist eine Schule ohne Noten gerecht und objektiv? …

Ich schreibe diesen Blogbeitrag aus der Perspektive einer Mutter mit zwei Kindern, die beide ‚Systeme‘ kennen. Zugleich bin ich selbst Pädagogin und setze mich in meiner Arbeit für ein eben solches aktives und selbstbestimmtes Lernen ohne Noten ein. Vor diesem Hintergrund habe ich selbst nie mit dem pädagogischen Konzept der Offenheit und Notenfreiheit ‚gefremdelt‘. Über die positiven Veränderungen, die diese Art zu lernen für unseren Alltag Zuhause mit sich brachte, war ich dennoch ziemlich erstaunt.

Mit diesem Blogbeitrag möchte ich anderen Eltern davon berichten – und sie so dazu ermutigen, offene Lernformen und Notenfreiheit an den Schulen ihrer Kinder zu unterstützen oder vielleicht sogar selbst im Rahmen von Elternarbeit anzuregen. Es lohnt sich – in erster Linie natürlich für die Kinder, aber zugleich auch für die eigene Beziehung mit ihnen und den gemeinsamen Alltag.

Wie funktioniert überhaupt offenes Lernen ohne Noten?

Offenes Lernen ohne Noten funktioniert natürlich nicht überall gleich. Schulen setzen sich unterschiedliche Schwerpunkte und haben individuelle pädagogische Konzepte und Angebote. Es gibt aber zwei ‚Knackpunkte‘, die für mich ein verändertes Lernen ausmachen:

  1. Lernende lernen nicht alle zur gleichen Zeit das Gleiche, sondern in ihrem eigenen Tempo und ausgehend von ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten.
  2. Lernen wird nicht abschließend mit einer Ziffernote bewertet, sondern Lernende übernehmen selbst Verantwortung für ihren Lernprozess, reflektieren und überprüfen sich selbst und werden von Pädagog*innen in ihren Lernprozessen unterstützt und begleitet.

Wie so etwas konkret aussehen kann, lässt sich an zahlreichen Schulen in vielfältigen Variationen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten erleben. An der Schule meiner Kinder, dem Bildungshaus Riesenklein in Halle, sind beispielsweise Lernlandkarten und selbst geschriebene Wochenpläne in Verbindung mit Freiarbeitsmaterialien und ergänzenden Kursen und Angeboten sowie regelmäßiger Lernberatung grundlegend.

Zum Teil gibt es an Schulen auch nur erste und kleine Schritte in diese Richtung, wenn Lehrkräfte z.B. versuchen, die ihnen zur Verfügung stehenden Spielräume in diesem Sinne auszunutzen. Zum Nachlesen finden sich viele solcher Beispiele beim Institut für zeitgemäße Prüfungskultur.

Was ändert sich Zuhause?

Wie sehr Schule den Alltag prägt, wissen alle Menschen, die Verantwortung für Kinder tragen. Die Schule bestimmt weitgehend über den Tagesablauf und gibt Ferien und Freizeit vor. Vor allem aber wirkt sie in den Alltag ein, weil Kinder von der Schule geprägt werden und diese Prägungen dann natürlich mit nach Hause bringen. Problematisch wird das dann, wenn Schule negativ prägt: Wenn sie Kinder entmutigt, unter Dauerstress setzt oder ihnen sogar Angst macht. Solch eine negative Prägung kann übrigens bei Einser-Schüler*innen ebenso vorliegen, wie bei ‚Schulversager*innen‘.

Meine Erfahrung ist: Wenn in einer Schule mit offenen Lernformen und ohne Noten gelernt wird, dann prägt Schule stattdessen positiv und macht deshalb auch das Leben Zuhause besser. Fünf Aspekte sind für mich dabei aus Elternperspektive entscheidend.

1. Nicht mehr Lückenfüller sein!

In einer traditionellen Schule ist die Rolle von Eltern oft die von ‚Lückenfüllern‘. Sobald das Kind in der Schule nicht hinterherkommt, einige Zeit krank ist oder einfach mal eine schlechte Phase durchmacht, fällt das im Zweifelsfall auf die Eltern zurück. Sie setzen sich dann entweder selbst mit dem Kind hin, recherchieren nach Lernangeboten im Netz oder investieren in Nachhilfe. Diese Lückenfüller-Funktion können Eltern aus bildungsnahen Familien mit entsprechenden Einkommen oft deutlich besser wahrnehmen, als bildungsferne Eltern mit wenig Geld – mit der Folge der sozialen Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems. Aber auch für bildungsnahe Elternhäusern, die die Rolle ausfüllen können, ist das meist nicht schön: Es ist oft ein großes Generve mit den Kindern, was die Beziehung stören und den Alltag belasten kann.

Meine 8jährige Tochter war beispielsweise gerade eine Woche krank Zuhause. In einer Schule, in der alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche lernen, wären wir jetzt ziemlich im Stress: Wir müssten andere Eltern anschreiben und uns die Inhalte der letzten Woche besorgen, wir müssten jetzt am Wochenende mit einem wahrscheinlich sehr unwilligen Kind nacharbeiten – und in der nächsten Woche wäre die Tochter dann dennoch zum Teil unvorbereitet in der Schule und erst einmal frustriert, weil sie merken würde, dass ihr doch noch einiges fehlt, was die anderen schon können. Sehr wahrscheinlich würde sie stören, weil sie die anderen aufhält und erst mal wieder ‚eingepasst‘ werden muss. Wenn jedes Kind dagegen im eigenen Tempo lernt, dann ist es natürlich auch nicht schön, eine Woche nicht in der Schule zu sein. Die Tochter kann aber am Montag recht unproblematisch ihre Lernvorhaben anpassen, einen neuen Wochenplan schreiben – und dann ohne Schwierigkeiten in ihrem Tempo weiterlernen.

Die Rolle als ‚Lückenfüller‘ schwierig zu finden, bedeutet übrigens gar nicht, dass man sich als Eltern ein einfacheres Leben machen will und die Schule eben allein sehen soll, wie sie mit den Kindern klar kommt. Denn wenn die Rolle als Lückenfüller wegfällt, ist stattdessen Raum für vieles andere.

2. Lernen miterleben!

Vorgegebenes und standardisiertes Lernen ist vor allem eines: Langweilig! Natürlich gibt es auch in diesen Fällen immer mal wieder interessante Themen und Entdeckungen, aber überwiegend ist Lernen dann eben ‚Pflichtprogramm‘. Man kaut durch, was man vorgesetzt bekommt. Zuhause kommt dann auf die Frage ‚Wie war es denn in der Schule?‘ deshalb oft einfach nur ein ‚Ganz okay!‘. Oder es wird von den außerschulischen Erlebnissen mit Freund*innen und dem Drumherum berichtet. Das Lernen selbst spielt aber meist keine Rolle. Wenn Kinder aber ausgehend von ihren eigenen Interessen und selbstbestimmt lernen, dann macht Lernen Freude, sorgt für ‚Aha-Momente‘ und auch ziemlich viel Stolz. Zuhause kommt dann auf die Frage ‚Wie war es denn in der Schule?‘ viel häufiger eine Erzählung, was man ausprobiert hat, was man neu erfahren hat und was man vielleicht auch unbedingt zeigen will.

Der 12jährige hat beispielsweise kürzlich im Blog seiner Schule eine erste Buchrezension veröffentlicht und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und davon zu berichten. Die 8jährige hatte so viel Freude mit einem Freiarbeitsmaterial, dass sie es Zuhause nachgebastelt hat, damit ich auch mal das Lernen damit ausprobieren kann … Daneben wird von beiden oft auch einfach so erzählt, was man jeweils neu gelernt hat. Und erzählt wird es deshalb, weil es für die Kinder wichtig ist, weil es ihr selbstbestimmtes Lernen ist – und weil es sie selbst begeistert. Wenn sie ihre eigenen Themen verfolgen können, dann merken sie auch, dass sie etwas besonderes lernen und können – eben genau das, was sie gewählt haben. Und es ist nicht nur so, dass sie eben z.B. die wesentlichen Inhalte zum Mittelalter so wie alle anderen Kinder der Klasse auch gelernt haben.

Meine These ist auch, dass Pädagog*innen die nicht in erster Linie Stoff vermitteln, sondern Lernende auf ihrem Weg begleiten, diese oftmals auch zu ihren jeweiligen inhaltlichen Themen mehr begeistern und herausfordern können, als wenn eben standardisierter Unterricht gemacht werden muss.

Als Mutter macht es Freude, das miterleben zu können. Denn es bedeutet: mit zu staunen, mit stolz zu sein und oft auch selbst mit zu lernen.

3. Selbstbewusstere Kinder begleiten!

Wenn Kinder in der Schule eine Ermöglichungspädagogik erleben, dann trauen sie sich auch Zuhause und bei außerschulischen Aktivitäten mehr zu. Bei meinen Kindern zeigt sich das unter anderem daran, dass sie eine sehr viel größeres Selbstbewusstsein für eigene Aktivitäten entwickeln und diese dann auch sehr konsequent verfolgen.

Die 8jährige zeichnet beispielsweise gerne – und hat sich gewünscht, dass mehr Menschen ihre Bilder sehen und nutzen können, woraufhin wir gemeinsam eine Website für sie gestalteten. Um so etwas vorzuschlagen, muss man von sich selbst überzeugt sein. Die meisten Kinder sind das wahrscheinlich, wenn sie noch jünger sind, aber verlieren dieses Selbstbewusstsein dann häufig in der Schule.

Zweites Beispiel: Der 12jährige möchte gerne eine Spracherkennung für seinen Laptop entwickeln. Er hat dazu Anschluss gesucht zu den Junghacker*innen hier vor Ort, hat sich beraten lassen, was er dazu braucht – und fängt jetzt an, zu programmieren. Ich denke, dass er das vor allem auch deshalb angehen konnte, weil er in der Schule die Erfahrung gemacht hat, dass eigene Ideen etwas Gutes sind und er dabei unterstützt wird, dass er es hinbekommt, diese Ideen dann auch umzusetzen und dass man sich gezielt Hilfe von anderen Menschen zur Umsetzung seiner Pläne holen kann.

Ich weiß, dass es natürlich sehr, sehr viele Kinder in einem traditionellen Lernsetting gibt, die das ganz genau so machen. Ich finde es trotzdem plausibel, dass das dann eben trotz der Schule – und nicht befördert durch den schulischen Alltag passiert. Denn wenn Kinder tagtäglich gesagt bekommen, xy kannst Du noch nicht und musst Du erst noch lernen. Und wenn positiv bewertet wird, wenn sie dann genau das in der geforderten Form aufgeschrieben oder wiedergegeben hat, dann ist es ein sehr großer Schritt eigene Ideen zu entwickeln und zu verfolgen. Wenn Kinder aber in der Schule vielfältige Anregungen bekommen, ihre eigenen Fragen entwickeln, sich eigene Lernvorhaben setzen und bei der Umsetzung begleitet werden – so dass sie Schritt für Schritt immer kompetenter werden, dann ist es weniger schwer, neuen Herausforderungen offen gegenüber zu stehen und eigene Pläne mit mehr Selbstbewusstsein zu verfolgen. Aus Elternperspektive macht es sehr viel Freude, solche Entwicklungen zu beobachten und zu begleiten.

Mehr Selbstbewusstsein erlebe ich auch im Familienalltag. Ich fand zwar noch nie, dass wir einen sehr autoritären Erziehungsstil hatten, aber es ist dennoch auffällig, dass die Kinder jetzt mit mehr Selbstbewusstsein ihre Bedürfnisse und Interessen artikulieren – und es offensichtlich auch immer besser lernen, für ihre Argumente einzustehen. Das war erst einmal ungewohnt und ist manches Mal auch langwierig und anstrengend, aber ich finde es eine sehr positive Entwicklung.

4. Kooperativ gestalten können!

Wenn Lehrer*innen in der Schule Noten verteilen und damit sehr oft direkt darüber entscheiden, wo ein Kind in der Klasse ’steht‘, ob es in die nächste Klasse kommt oder sogar, welche weiterführende Schule es besucht, dann entsteht nicht nur zwischen Lernenden und Lehrenden eine Hierarchie, sondern auch zwischen den Eltern und den Lehrer*innen sowie zwischen den Eltern untereinander. Die letztgenannten Hierarchien sind oft eher unbewusst und es wird oft auch viel dagegen getan, dass diese Hierarchien möglichst überwunden werden. Vollständig überbrücken können, wird man sie aus meiner Sicht nicht. Denn wenn ich der Lehrperson meiner Kinder in einem klassischen Schulsystem gegenüber sitze, dann sitze ich immer auch der Person gegenüber, die meinen Kinder einen Notenstempel verpasst bzw. verpassen muss. Und wenn ich mit anderen Eltern rede, dann schwingt immer mit, wessen Kind an welcher Stelle der Klasse steht – und festgemacht wird das in den allermeisten Fällen daran, wer welche Noten schreibt.

In einem System mit offenem Lernen und ohne Noten ist das anders. Hier ist Raum für Kooperation in dem Sinne, dass gemeinsam beraten und überlegt werden kann, was für ein Kind das beste ist und wie man mit Herausforderungen umgehen kann. Weil es nicht die eine vorgegebene Norm gibt, die erfüllt werden muss (= möglichst gute Noten schreiben), kann der Blick auf die jeweils individuellen Stärken der Kinder gelenkt werden. Das fällt mir vor allem in Gesprächen unter Eltern auf. Ich empfinde es viel weniger als eine Konkurrenzsituation, wo vor allem zählt, wer das ‚beste‘ Kind hat. Stattdessen sind alle Kinder besonders, haben alle irgendwelche Schwierigkeiten und können auch alle irgend etwas großartig. Das ist die Basis auf der man dann gemeinsam reden und sich auch gegenseitig unterstützen kann.

5. Ein gutes Leben ermöglichen!

Gibt es denn wirklich kein ‚Aber‘ bzw. klingt das alles nicht zu schön, um wahr zu sein? Das ‚Aber‘ was mir am häufigsten kommuniziert wird, ist die Sorge, ob das, was die Kinder da machen und lernen denn ‚reicht‘ und ob es eine ausreichende Vorbereitung auf das spätere Leben ist.

Ich finde: Wenn Kinder mit Freude und selbstorganisiert lernen können, wenn sie von und mit anderen lernen können und sich Hilfe suchen können, wenn sie sie brauchen und wenn sie ermutigt werden, selbstbewusst ihren Weg zu gehen, Herausforderungen zu erkennen und nach Lösungen zu suchen, dann ist das die mit Abstand beste Vorbereitung, die ein Kind für das spätere Leben haben kann. Zugleich ermöglicht solch ein Lernen auch im Hier und Jetzt ein gutes und erfülltes Leben, was ich mindestens ebenso wichtig finde.

Es klingt fast schon kitschig und übetrieben, aber es stimmt: Es macht einen als Eltern sehr froh, wenn Kinder mit einem Strahlen im Gesicht von der Schule kommen und sagen: „Das war heute wieder mal richtig schön. Ich freue mich auf morgen!“.

Fazit

Offenes Lernen ohne Noten erfordert Mut, weil es immer noch eher die Ausnahme als die Norm ist. Mut von Entscheidungsträger*innen, von Pädagog*innen, von den Kindern selbst und auch von den Eltern. Ich hoffe, ich konnte mit diesem Blogbeitrag ein bisschen Mut machen, sich darauf einzulassen. Ich bin mir sicher: Bereuen wird man es nicht!

PS: ein paar Differenzierungen

  1. Ich schreibe in diesem Blogbeitrag überwiegend von Eltern, Müttern oder Vätern. Es gibt aber auch natürlich auch viele andere Menschen, die Verantwortung für Kinder übernehmen.
  2. Ich schreibe in diesem Blogbeitrag sehr plakativ: Natürlich lassen sich Schulen nicht so eindeutig in zwei Systeme einteilen und es gibt wie eigentlich überall viele Zwischentöne.
  3. Ich formuliere in diesem Blogbeitrag Kritik an einem Lernen mit Noten und wenig Selbstbestimmtheit. Das ist immer in erster Linie als Kritik am System zu verstehen. Ich weiß, dass es sehr viele Pädagog*innen gibt, die sich für anderes Lernen einsetzen, aber oft selbst in den Strukturen gefangen sind. Vielleicht kann auch ihnen dieser Blogbeitrag bei der Veränderung von Schule helfen.


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