Was braucht zeitgemäßer Distanzunterricht?

Viele großartige Schulen machen aktuell vor, wie sie mit existierender digitaler Infrastruktur und einem technisch-affinen Kollegium wunderbaren Distanzunterricht gestalten. In diesem Blogbeitrag möchte ich darstellen, dass dafür aus meiner Sicht weniger die existierende Technik und die technische Affinität der Lehrenden grundlegend ist, als vielmehr die in diesen Schulen gelebte Praxis von Beziehung, Vertrauen, Kollaboration, Offenheit und Freiraum.

Beziehung

Mit Beziehung ist gemeint, dass Lehrer*innen Interesse an ihren Schüler*\innen haben, ihre Entwicklung gerne und mit Freude begleiten und möchten, dass es ihnen gut geht. Solche Lehrer*innen suchen jetzt im Distanzunterricht den Kontakt zu ihren Schüler*innen, fragen nach, wie es ihnen geht und geben persönliches Feedback. Es ist zweifellos toll, wenn diese Beziehungsarbeit z.B. über Audio-Feedback, in einer Videokonferenz oder in einer extra dazu gestarteten ‘Quasselstunde’ erfolgen kann. Ich erlebe aber Kolleg*innen, die auch andere Wege finden, wenn diese technischen Möglichkeiten (noch) nicht existieren: Sie rufen an, sie schreiben einen Brief, sie legen der Postmappe eine persönliche Nachricht bei oder kommen sogar bei den Schüler*innen vorbei, um ihnen wenigstens über den Gartenzaun hinweg ‘Hallo’ zu sagen …

Vertrauen

Mit Vertrauen ist gemeint, dass zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Dazu gehört ein respektvoller Umgang miteinander. Ebenso gehört dazu, dass Lehrer*innen den Schüler*\innen etwas zutrauen und vor diesem Hintergrund nicht auf ständige Kontrolle setzen, sondern z.B. projektorientierte Lerngebote gestalten. Auf der anderen Seite gehört dazu, dass Schüler*innen dieses Vertrauen wertschätzen und gelernt haben, damit umzugehen. Guter Distanzunterricht ist dann möglich, wenn bereits zuvor in vertrauensvollen Umgang investiert und das Lernen auf dieser Basis eingeübt wurde.

Offenheit

Mit Offenheit ist gemeint, dass Schule als Organisation und die darin beteiligten Akteur*innen bereit sind, sich auf neue Situationen einzulassen und diese aktiv zu gestalten. Konkret auf die Corona-Situation übersetzt, bedeutet das: ‘Wir befinden uns in einer Pandemie. Was kann und was sollte unsere Schule in dieser Situation leisten?’ Schulen, die sich auf diese Frage einlassen und versuchen Lösungen und neue Ideen zu entwickeln, sind oft die Schulen, die schon zuvor z.B. darüber nachgedacht haben, was Lernen in einer Kultur der Digitalität bedeutet, wie sich Bildung verändern muss oder wie Lehren in sehr heterogenen Lerngruppen gelingen kann.

Kollaboration

Mit Kollaboration ist gemeint, dass Herausforderungen an der Schule kollaborativ angegangen werden uns sich Lehrer*innen als Teamplayer verstehen. Außerdem gehört dazu, dass Schüler*innen über ihre Schule mitbestimmen und mitentscheiden und Eltern ebenfalls einbezogen sind und mitgestalten können. Darüber hinaus bedeutet Kollaboration auch, den Austausch mit anderen Schulen und außerschulischen Akteuren zu suchen. An Schulen, an denen es eine solche kollaborative Praxis gibt, ist es selbstverständlich, dass auch die Herausforderungen des Distanzunterrichts kollaborativ angegangen und gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Und wenn viele Menschen gemeinsam denken, entstehen klügere Lösungen, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht.

Freiraum

Mit Freiraum ist gemeint, dass Schulen für sich Wege und Möglichkeiten gefunden haben, um Zeit zu haben für gute Bildung, die nicht durch enge Fächerkorsette, 45-Minuten-Takt und starre Klassenstruktur dominiert wird. Und die – damit verbunden – den Mut hatten, diese traditionelle Struktur zu überwinden. Zusammen mit der Komponente des Vertrauens sind durch diesen entwickelten Freiraum auch jetzt im Distanzunterricht übergreifende und oft projektorientierte Aufgabenstellungen und Lernangebote möglich.

Was bedeutet das für die aktuelle Situation?

Wenn ich die aktuelle Situation beobachte (sowohl als eine im #twitterlehrerzimmer vernetzte Pädagog*in, die zahlreiche Lehrkräfte-Fortbildungen gibt, als auch als Mutter mit zwei Kindern im Distanzunterricht), dann finde ich insbesondere spannend, dass der Distanzunterricht wie durch ein Mikroskop überdeutlich sichtbar werden lässt, wenn es an den genannten Aspekten an einer Schule fehlt. Deshalb führt eine bessere technische Ausstattung aus meiner Sicht auch nicht automatisch zu besserem Distanzunterricht. (Das ist natürlich kein Plädoyer dafür, dass die technische Infrastruktur unwichtig ist. Zeitgemäß wird Bildung aus meiner Sicht aber nur mit und nicht durch diese sehr erwünschte Technik. Grundlegend ist die dargestellte veränderte Haltung.)

Die spannende Frage ist also: Wie schafft man es, dass Vertrauen, Beziehung, Offenheit, Kollaboration und Freiraum zur neuen Normalität an allen Schulen werden? Ich habe dazu viele Ideen und Wünsche. Beginnen könnte man mit den folgenden drei:

  1. In offiziellen Lehrkräfte-Fortbildungen sollten Meta-Kompetenzen wie Selbstlernen, Kollaboration und Vernetzung einen deutlich größeren Stellenwert bekommen, als eine direkte Vermittlung von oft technischen Kompetenzen. (Ich habe zum Beispiel zig Lehrkräften beigebracht, was H5P ist und wie sie damit interaktive Online-Inhalte erstellen können. Wäre die Zeit nicht besser investiert gewesen – gerne am Bsp von H5P – zu zeigen, wo man sich alles, was man zu diesem Tool wissen muss, selbst beibringen kann und wie man sich zu H5P mit Kolleg*innen auch schulübergreifend austauschen und dazu lernen kann?)
  2. Es braucht noch viel mehr Räume für Austausch und Vernetzung an Schulen und zwischen Schulen sowie mit außerschulischen Partnern. Toll fände ich vor allem auch eine Art Patenschaftsprogramm/ ‘Entwicklungshilfe’ zwischen Schulen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben und Schulen, die noch ganz am Anfang stehen.
  3. Solange Lehrkräfte in Hinblick auf den Aspekt des Freiraums von politischer Seite eher Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen, als Unterstützung zu erhalten und vor allem solange die zeitlichen Möglichkeiten weit hinter dem zurückbleiben, was nötig wäre, ist es oft nur dem außerordentlichen Engagement von sehr vielen Lehrkräften zu verdanken, wenn gute Bildung stattfindet. Das Ziel muss hier sein, dass Lehrkräfte gute Bildung gestalten können ohne dabei massiv Überstunden zu machen.


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