Hybride Bildungssettings

In diesem Blogbeitrag möchte ich die Herausforderung des hybriden Lernen aufgreifen. Zum Nachdenken gebracht hat mich ein Tweet von Jöran, in dem er twittert, dass jedes Lernen hybrides Lernen sei. Denn in jedem Onlinesetting seien alle Beteiligten auch immer an einem physischen Ort. Und in jedem Präsenzsetting hätten die Menschen (fast) immer auch einen Online-Zugang dabei. Was aber bedeutet das für die pädagogische Gestaltung von Bildungssettings? Um diese Frage zu reflektieren, finde ich es in einem ersten Schritt hilfreich, sich die Unterschiede zwischen physischen Räumen und Online Räumen zu vergegenwärtigen.

Wie unterscheiden sich physische Räume und Online Räume zum Lernen?

Der reale Raum als Lernraum (= der physische Ort, an dem sich eine Person zum Lernen aufhält) unterscheidet sich vom virtuellen Raum (= der Online-Zugang, den eine Person zum Lernen nutzt). Mir scheinen vor allem die folgenden 5 Unterschiede relevant zu sein. Wichtig ist dabei, dass die Unterschiede meist nicht als starres ‘entweder-oder’ zu betrachten, sondern vielmehr mit einem ‘eher’ davor – und natürlich sind auch nicht alle Online-Räume gleich – ebenso wenig wie alle physischen Räume.

  1. dauerhaft und geplant versus flüchtig und spontan: An einem physischen Veranstaltungsort halte ich mich relativ dauerhaft auf. Natürlich kann ich Räume wechseln, spazieren gehen, wegfahren … In einem Online-Raum bin ich aber mit nur einem Klick potentiell woanders. Wenn ich deshalb zu einer Präsenz-Veranstaltung fahre, dann muss ich das meist planen und vorbereiten; an einer Online-Veranstaltung kann ich meist recht spontan teilnehmen.
  2. singulär versus multipel: An einem physischen Veranstaltungsort kann ich zwischen Räumen wechseln und zum Beispiel bei einem Barcamp erst ein bisschen etwas von Session A und dann noch von Session B mitnehmen. Ich kann aber nicht zeitgleich in mehreren Räumen sein. Im Online Kontext kann ich aber (fast gleichzeitig) Mails schreiben, bei einem Webinar zuhören und meine Twitter-Timeline checken.
  3. geschlossen versus offen: Ein physischer Veranstaltungsort hat meist eine gewisse Begrenzung: die Wände eines Raums, die Türen eines Gebäudes oder auch ein Park/ ein Wald/ ein Sportplatz. Der Online-Raum ist erst einmal unbegrenzter und offen, auch wenn natürlich auch hier mit Zugangsdaten/ Videokonferenzräumen / Registrierungen etc. Begrenzungen vorgenommen werden.
  4. eingespielte soziale Verhaltensweisen versus neue Lernprozesse: An einem physischen Veranstaltungsort habe ich viele Routinen kennen gelernt: ich gehe zunächst zur Registrierung, vielleicht kann ich mir einen Kaffee holen, ich setze mich irgendwo hin, wenn ich etwas sagen will, dann melde ich mich, ich bin ziemlich sicher, dass andere Menschen mich hören/ sehen können etc. In einem Online-Raum ist vieles erst einmal neu und ungeklärt: Soll ich meine Kamera ein- oder ausschalten? Melde ich mich im Chat, per Handzeichen oder via Audio? Wird mein Audiosignal/ mein Bild richtig übertragen? Muss ich mich abmelden, wenn ich gehe? etc. (Dieser Unterschied hebt sich mit den Erfahrungen der Corona-Zeit zwar immer mehr auf, aber er ist für mich immer noch erkennbar)
  5. vielfältige Sinneseindrücke versus fokussierte Sinneseindrücke: An einem physischen Veranstaltungsort bin ich mit vielfältigen Sinneseindrücken konfrontiert: Ich kann ich im gesamten Veranstaltungsraum umblicken, ich sehe alle anderen Teilnehmenden und ihre jeweiligen Reaktionen, ich nehme vieles auch unbewusst war, ich kann Stimmengewirr wahrnehmen und zuordnen … Im Online-Raum sind die Sinneseindrücke dagegen fokussiert: die Videokachel, der Chat, die jeweils eine Stimme der redenden Person.

Wie lassen sich hybride Lernräume zeitgemäß gestalten?

Wenn ich der These folge, dass jedes Lernen immer hybrides Lernen sei, dann ist die größte Schwierigkeit aus pädagogischer Perspektive, dass es in diesen hybriden Bildungssettings immer eine primäre und eine nachgelagerte Ebene gibt.

  • Primäre Ebene: Ich nehme entweder an einer Präsenz- oder an einer Online-Veranstaltung teil.
  • Nachgelagerte Ebene: Bei der Präsenzveranstaltung habe ich einen Online-Zugang dabei; bei der Online-Veranstaltung bin ich zugleich an einem physischen Ort.

Das Problem der nachgelagerten Ebenen ist nun, dass diese sehr häufig als Störung wahrgenommen und pädagogisch nicht mitgedacht werden:

  • In einer Präsenzveranstaltung sitze ich in der letzten Reihe, beantworte meine Mails oder spiele CandyCrush.
  • In einer Online-Veranstaltung bellt der Hund, brauchen Kinder Unterstützung, gibt es zu wenig Platz, muss das Zimmer dringend gesaugt werden, klingelt der DHL-Kollege …

Vor diesem Hintergrund lässt sich als ein Merkmal von guten Bildungsveranstaltungen festhalten, dass ihr hybrider Charakter mitgedacht und dass auch die jeweils nachgelagerte Ebene pädagogisch gestaltet wird.

Wie lässt sich der Online-Raum bei Präsenzveranstaltungen gestalten?

Auch wenn meine letzte Präsenzveranstaltung aufgrund der Corona-Pandemie nun schon ein Jahr zurückliegt, fallen mir noch viele Möglichkeiten zur Gestaltung der Online-Ebene in Präsenzveranstaltungen ein, die ich als sehr gewinnbringend und produktiv erlebt habe:

  • Twitter als zusätzliche Diskussions- und Vernetzungsebene: Wenn (Präsenz)-Veranstaltungen einen Hashtag haben, dann entsteht via Twitter eine zusätzliche Diskussions- und Vernetzungsebene: Ich nehme wahr, wer alles da ist, kann den Personen folgen und sie auf diese Weise in mein persönliches Lernnetzwerk integrieren – und Twitter kann auch für Gesprächsanlässe im physischen Raum sorgen, z.B. die Frage in der Kaffeepause: ‘Du hast doch vorhin xy getwittert. Was meintest Du denn genau damit?
  • Kollaborativer Mitschrieb oder Dokumentationen: Insbesondere bei Barcamps aber auch bei kleineren Veranstaltungen gibt es oft die Möglichkeit, über ein Etherpad einen kollaborativen Mitschrieb zu gestalten oder Inhalte der Veranstaltung zu dokumentieren.
  • Umfragen/ Evaluationen/ Mitmach-Angebote: Während Vorträgen werden Teilnehmende aufgefordert, sich an Umfragen z.B. via Mentimeter zu beteiligen oder auch die Veranstaltung insgesamt zu evaluieren. Bei den OERcamp Werkstätten waren auch Telegram-Gruppen zum Austausch im Einsatz.
  • Infokanal, Zusatzinformationen, Programm: Während die oben geschilderten Merkmale vor allem bei offenen und partizipativen Veranstaltungsformaten anzutreffen sind, gibt es auch bei ganz ‘klassischen’ Veranstaltungen oft die Möglichkeit, online Informationen zum Programm abrufen zu können oder weiterführende Informationen zu erhalten.

Wie lässt sich der physische Raum bei Online Veranstaltungen gestalten?

Während es bei Präsenz-Veranstaltungen aus meiner Sicht schon sehr normal ist, dass der Online-Zugang mitgedacht und aktiv genutzt wird, ist das bei Online-Veranstaltungen aus meiner Sicht mit der Präsenz-Ebene oft noch viel weniger der Fall. Das ist erst einmal nicht verwunderlich, denn während der Online-Zugang bei Präsenzveranstaltungen in der Regel von allen gleichermaßen genutzt werden kann, sind die physischen Räume bei Online-Veranstaltungen individuell sehr unterschiedlich und auch die Bereitschaft der TN, Einblicke in ihren privaten Raum zu gewähren, unterscheidet sich.

Dennoch gibt es erste gute Ideen und Ansätze. Die folgenden habe ich bereits selbst kennen gelernt oder ausprobiert:

  • Hands-On Workshops: Die Lerngruppe bastelt/ baut/ malt/ experimentiert gemeinsam – und jede Person dabei bei sich im physischen Raum. Dabei wird jeweils vor der Kamera gezeigt, was gerade gemacht wird. In der Socializing-Variante kann Hands-On natürlich auch umgestaltet werden in gemeinsam Pizza essen oder Kuchen backen oder Wein trinken …
  • Hole xyz vor die Kamera: Sehr verbreitet ist es, den physischen Raum im Rahmen von Energizern einzubinden. Zum Beispiel, indem Teilnehmende einen bestimmten Gegenstand holen und vor die Kamera halten. Oder auch z.b. mit Strange.Garden eine kollaborative Collage mit fotografierten Gegenständen aus ihrem physischen Raum erstellen.
  • Goodie Bag: Vor der Veranstaltung erhalten alle teilnehmenden Personen eine ‘Goodie-Bag’ geschickt. Darin finden sie z.B. Traubenzucker, Schokolade, Instant-Kaffee, Kekse oder auch nützliche Utensilien wie Notizzettel, Kugelschreiber oder Sticker. Während der Online-Veranstaltung können diese ‘Geschenke’ dann zum Einsatz kommen. Da alle TN identische Dinge haben, sorgt das ‘in die Kamera halten’ für ein Wir-Gefühl.
  • Live-Unpackig: Gut mit der Goodie Bag zu verbinden ist ein Live Unpackig vor der Kamera. Alle TN erhalten ein Päckchen, aber packen es nicht allein, sondern gemeinsam vor der Kamera aus.
  • Arbeitsheft zum Ausfüllen: Die pädagogisierte Variante der Goodie Bag sind Arbeitshefte zum Ausfüllen. Damit hatte ich bereits in Präsenzveranstaltungen experimentiert – und das nun auch in Online-Veranstaltungen versucht. Die Idee ist, dass die TN, die Lernschritte nicht auf dem Bildschirm sehen, sondern ein Heft zugeschickt/ zum Ausdrucken bekommen, in dem sie ihre Notizen festhalten und Fragen beantworten können. Der Nachteil an dieser Methode ist, dass der Lernprozess dann wenig kollaborativ ist bzw. das sehr gezielt über die Videokonferenz angestoßen werden muss. Der Vorteil ist, dass das Heft gerade unsicheren und tendenziell orientierungslosen Personen Unterstützung und Struktur bietet.
  • Stadtrundgang: Eine oder mehrere Personen der Lerngruppe übernehmen die Aufgabe einer ‘Stadtführung’, d.h. spazieren durch ihre Stadt / ihren Ort und zeigen ihn den anderen Teilnehmenden über die Smartphone-Kamera.
  • Was meinen Deine Mitbewohner*innen?: Unterschiedlich gut funktioniert meiner Erfahrung nach die Idee, die Lerngruppe um Mitbewohner*innen zu erweitern. Möglich ist das, wenn man z.B. Ideen entwickelt und ein Feedback von einer bisher unbeteiligten Person haben will. Oder auch Expert*innen zu Wort kommen, die mit einem zusammen wohnen. Ganz wunderbar fand ich z.B. einen Workshop zu Smartphone-Nutzung von Kindern und Jugendlichen für Eltern, in der die TN aufgefordert wurden, doch mal kurz ihre Kinder fragen zu gehen und dann mit den Antworten in die Videokonferenz zurück zu kommen. Das lässt sich natürlich auch umdrehen und mit anderen Themen ausprobieren. Und was immer gut funktioniert, sind Haustiere vor der Kamera :-)

Wie lassen sich weitere Online-Räume bei Online-Veranstaltungen erschließen?

Neben der jeweils dargestellten nachrangigen Ebenen gibt es bei Online-Veranstaltungen auch noch die nachrangige Ebene von potentiell vielen weiteren Online-Zugängen. Auch hier stellt sich die Frage der pädagogischen Gestaltung, die dann ähnlich wie die Gestaltung des Online-Zugangs bei Präsenzveranstaltungen aussieht. Gerade hier sehe ich noch viel Potential zur Gestaltung und zum gemeinsamen Ausprobieren. Unter anderem geht es mir dabei um die folgenden drei Aspekte:

  • Twittern von Online-Veranstaltungen: Auch Online-Veranstaltungen haben Hashtags – und auch von Online-Veranstaltungen wird getwittert. Meine Selbstbeobachtung ist allerdings, dass ich das sehr viel weniger tue und auch deutlich weniger Tweets lese. Vielleicht braucht es hier ein bisschen gezielte Anstupser von Veranstaltungsseite: Sagt schon einmal vorher Hallo, teilt am Ende des Workshops Euer wichtigstes Learning, sagt drei Menschen ‘Danke’, die euch heute inspiriert haben ….
  • Dokumentieren bei Online-Veranstaltungen: Bei Online-Veranstaltungen geht die Tendenz dahin, dass Input aufgezeichnet oder vorab im Flipped-Format zur Verfügung steht. Meiner Erfahrung nach, wird Dokumentation damit nicht mehr so wichtig genommen, wie bei physischen Veranstaltungen, denn ‘das Wichtige’ steht dann ja ohnehin schon alles online. Für mich macht eine gute Dokumentation aber gerade das Zusammenfassen, das kollaborative Zusammentragen und das Trasferieren in einen Anwendungskontext aus. Deshalb besteht hier aus meiner Sicht noch Denkbedarf, wie sich gute Dokumentationen bei Online-Veranstaltungen realisieren lassen.
  • Smartphone und Laptop: Wer an einem Laptop einer Videokonferenz folgt, ist zum Teil damit überfordert, auch noch in vielen anderen Tabs zu arbeiten. Hier ist es meiner Erfahrung nach eine gute Möglichkeit, gezielt auf die Nutzung des Smartphones hinzuweisen und durchaus auch QR-Codes in Online-Präsentationen einzubinden. Wunderbar funktioniert z.B. Beteiligung mit dem Smartphone an Umfragen und Visualisierung der Ergebnisse in der Videokonferenz am Laptop.

Fazit: Weiterdenken und gemeinsam Lernen

Im letzten Jahr haben wir alle die dargestellte automatische Hybridität von Lernangeboten auf die eine oder andere Weise erlebt. Auch wenn schon vieles ausprobiert wurde, so gibt es aus meiner Sicht gerade in Hinblick auf den physischen Raum als nachgelagerte Ebene oder die Möglichkeit zu multiplen Online-Zugängen bei Online-Veranstaltungen noch viel zu überlegen und zu erkunden. Von diesen Erfahrungen und Lernprozessen wird es dann auch maßgeblich abhängen, wie Bildungsveranstaltungen nach Corona aussehen werden und ob es uns jetzt aktuell gelingt, zunehmende Video-Konferenz-Müdigkeit zu überwinden.


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