Digitale Denkwerkzeuge zum Erkunden

In seinem Buch ‘Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft’ beschreibt Armin Nassehi wie er Anfang der 80er Jahre als wohl letzte Generation ein Studium ohne jede Digitaltechnik absolviert hat. Er berichtet vom handschriftlichen Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten, dem anschließenden Abtippen und der Korrekturmöglichkeit mit TippEx. Sein Fazit zum Computer als Schreibgerät, den er erst nach seinem Studium kennen lernte und nutzte, lautet:

“Der Computer als Schreibgerät hat das Schreiben nicht einfach vereinfacht oder beschleunigt – es geht also nicht um Fragen der Skalierbarkeit. Der Computer als Schreibgerät hat das Schreiben entstofflicht. Bevor Text auf analoge Weise aufs Papier kommt, lebt er in einem virtuellen Zustand. Seine Virtualität besteht darin, dass er permanent veränderbar bleibt, ohne als Ganzes verändert werden zu müssen. Einschübe, Umformulierungen, Revisionen hinterlassen keine Spuren mehr.”

Die beschriebene kontinuierliche Bearbeitbarkeit ist für uns heute Normalität. Und darauf aufbauend können ‘digitale Denkwerkzeuge’ sogar noch viel mehr. Im folgenden möchte ich an 5 Beispielen exemplarisch aufzeigen, wie Lernen mit digitalen Denkwerkzeugen (und unter den Bedingungen der Digitalität) funktionieren kann. Das ist natürlich keine erschöpfende Darstellung, sondern vor allem dazu gedacht, Lust zu machen auf eigenes Erkunden und Ausprobieren.

(Wer sich an der Systematik der so genannten 4K einer zeitgemäßen Bildung (= Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken als zentrale Kompetenzen für das 21. Jahrhundert) orientiert: In diesem Blogbeitrag befasse ich mich insbesondere mit Kreativität und Kritischem Denken (= selbst Denken und neu Denken in der Übersetzung von Jöran). Das bedeutet nicht, dass ich Kommunikation und Kollaboration unter den Bedingungen der Digitalität nicht entscheidend finden würde. Ganz im Gegenteil! Zu ihnen habe ich aber bereits häufiger gebloggt.)

1. Multidimensionale Visualisierung mit den Gapminder-Tools

Digitale Denkwerkzeuge können Inhalte, Daten und Informationen mit mehreren Dimensionen visualisieren – und Lernende diese Visualisierung eigenständig erkunden lassen. Das lässt sich am Beispiel der Gapminder-Tools zeigen. Die Gapminder-Tools visualisieren Daten zu Einkommen, zu Alphabetisierung, zur Gesundheitsversorgung, zur Lebenserwartung und vielen weiteren Faktoren. Das Besondere ist ihre multidimensionale Darstellung:

  • Auf der x und der y-Achse können zwei Faktoren miteinander in Beziehung gesetzt werden (zum Beispiel Einkommen und Lebenserwartung)
  • Die Visualisierung selbst besteht aus farbigen Kreisen. Die Farbe gibt dabei den Kontinent an, die Größe des Kreises den Umfang eines weiteren selbst gewählten Faktors (zum Beispiel die Bevölkerungsanzahl oder der Energieverbrauch pro Person)
  • Hinzu kommt ein Zeitstrahl, der die Visualisierung beginnend von 1800 bis heute dynamisch darstellt.

All diese Dimensionen in einer Visualisierung darzustellen, macht diese natürlich sehr komplex – aber zugleich auch sehr anschaulich. Analoge Denkwerkzeuge würden wahrscheinlich schon an der großen benötigten Datengrundlage scheitern. Die mehrdimensionale Darstellung wäre keinesfalls möglich, die einfache Austauschbarkeit von Faktoren zum selbst Erkunden auch nicht.

Hier ausprobieren: Gapminder Tools

Auf ähnliche Art und Weise funktionieren für die Analyse von Text anstelle von Zahlen die Voyant-Tools.

2. Virtual Reality zum Selbermachen mit RemixVR

VR (Virtual Reality) bezeichnet eine computergenerierte Wirklichkeit, in die Lernende ’eintauchen’, d.h. sich in ihr wie in einer realen Welt bewegen können. Unter anderem Google Expeditions zeigt, wie diese Technik zum Lernen genutzt werden kann: Lernende können sich an einen bestimmten Ort begeben und diesen erkunden, obwohl sie sich real weiterhin im Klassenzimmer befinden. Zum Lernen spannend wird die Technik vor allem dann, wenn sie von Lernenden selbst gemacht wird. Möglich ist das unter anderem mit der Open Source Software VR Remix. Ich beginne gerade erst damit, sie zu erkunden. Auf den ersten Blick scheint sie mir eine gute Wahl für eine Open Source Software zur VR-Gestaltung.

Hier ausprobieren: RemixVR

3. Verknüpfung und Verbindung mit Twine

Digitale Denkwerkzeuge ermöglichen es Lernenden, Inhalte miteinander zu vernetzen. Sie können einfach darstellen, welches Element zu einem anderen Element gehört. Es lässt sich nicht nur linear darstellen, sondern mit Sprüngen, mit Vertiefungen und Wiederholungen. Die meisten kennen das Prinzip von Wikis. Auch Tags in einem Blog erfüllen eine ähnliche Funktion. Um solche Vernetzungen und Verknüpfungen durch eigenes Gestalten zu lernen, ist die Open Source Software Twine aus meiner Sicht eine gute Wahl. Hauptsächlich ist sie dazu gedacht, interaktive Geschichten und Spiele zu erstellen. Ebenso lässt sie sich aber auch für die Gestaltung von Tutorials nutzen. In all diesen Fällen muss analysiert werden, welcher Inhalt mit welchem anderen Inhalt verbunden werden soll, welcher Gedankenstrang an welcher Stelle weitergeführt wird und wie man durch ein bestimmtes Themengebiet navigieren kann …

Hier ausprobieren: Twine (bzw. zunächst dieses Mini-Tutorial zum Einstieg ansehen.

4. Vernetzte Mindmaps mit Kinopio

Ähnlich wie Verbindungen im Wiki-Stil gestaltet werden können, geht das auch mit Mindmaps. Spannend an digitalen Mindmaps ist die oben für Text dargestellte kontinuierliche Bearbeitbarkeit. Auf diese Weise lassen sich immer wieder neue Verbindungen und Verästelungen aufbauen, andere löschen und ganze Bereiche insgesamt verschieben. Ein Tool, bei dem das wunderbar umgesetzt ist, ist das sich in Entwicklung befindliche Kinopio. Es bietet eine freie Oberfläche für flexible Einträge (mit Text, Bildern und Links). Spannend ist vor allem die Möglichkeit, Verbindungen zwischen einzelnen Elementen mit unterschiedlichen Beschreibungen zu bezeichnen – und die Mindmap dann entsprechend zu filtern.

Hier ausprobieren: Kinopio

5. ‘Explorables’ mit dem Idyll-Editor

‘Explorables’ ist die Abkürzung für ‘Explorable Explanations’. Es handelt sich dabei um interaktive Darstellungen, die es Nutzenden erlauben, sich ein komplexes Thema durch Erkunden selbst zu erschließen. Mit der Parametric Press gibt es seit dem letzten Jahr eine ‘Online-Zeitschrift’, die Explorables veröffentlicht. Ich mag auch sehr gerne die Explorables von Nicky Case, z.B. diese interaktive Erkundungsreise, warum Fake News oft so rasant schnell verbreitet werden.

Zum Lernen besonders wirkungsvoll ist es natürlich, wenn man solche Explorables nicht nur erkundet, sondern auch selbst erstellt. Einen ersten Einstieg, wie das aussehen kann, lässt sich mit dem Kreislauftool gewinnen. Ganz simpel kann man hier aufzeichnen und animieren, wie etwas mit etwas anderem zusammenhängt. Für komplexere und vielseitigere Explorables empfehle ich den Idyll-Editor. Er ist ein Open Source Angebot zur Erstellung von Explorables, also von Online-Bildungsmaterialien zum Erkunden. Der Einstieg benötigt etwas Zeit, aber mithilfe der dargestellten Beispiele kann vieles über einen Remix gelernt werden. (Der Idyll-Editor ist für mich das Tool, das auf meiner Liste zum Lernen ganz weit oben steht. Denn gerade für die Erstellung von offenen Bildungsmaterialien (OER) finde ich ihn eine sehr spannende Perspektive.)

Hier ausprobieren: Idyll-Editor.


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