Spätestens seit der ersten Edunautika im Frühjahr 2018 in Hamburg finde ich die Verbindung zwischen Reformpädagogik und Kultur der Digitalität spannend. Seit Anfang diesen Jahres sind meine Kinder nun Lernende im Bildungshaus Riesenklein in Halle (Saale) – einer freien Schule, die sich an der Freinet-Pädagogik orientiert. Das war für mich ein erneuter Anstoß, um zu dieser pädagogischen Richtung einiges wieder zu entdecken oder neu zu lesen. Ich freue mich darauf, das auch noch stärker als bisher in meiner eigenen pädagogischen Arbeit zu berücksichtigen.
Kurze Einordnung der Freinet-Pädagogik
Die Freinet-Pädagogik gehört zu den reformpädagogischen Strömungen, die im letzten Jahrhundert ihren Ausgangspunkt hatten. Begründet und entwickelt wurde sie von Célestin und Elise Freinet in Frankreich.
Es gibt vier grundlegende Prinzipien:
- Freie Entfaltung der Persönlichkeit: Lernende haben die Möglichkeit, ihren Lernprozess mit unterschiedlichen Aktivitäten zu gestalten und hierfür eine Vielzahl unterschiedlicher Anregungen und Materialien zu nutzen. Wichtig ist hierbei freies und kreatives Arbeiten.
- Kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt: Lernende lernen ausgehend von ihrer Lebensrealität. Sie erkunden und experimentieren, wie die Welt beschaffen ist und sammeln eigene Erfahrungen.
- Selbstverantwortlichkeit: Lernende übernehmen selbst Verantwortung für ihren Lernprozess. Sie bestimmen ihren Lernrhythmus und schätzen selbst ein, was sie erreicht haben und wo sie noch weiterlernen wollen.
- Kooperation und gegenseitige Verantwortlichkeit: Neben der Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen Lernende auch Verantwortung für die Lerngruppe. Sie organisieren sich in der Gruppe, legen Regeln fest, bewältigen Konflikte und lernen von- und miteinander.
Auch wer sich nicht primär aus Richtung der Reformpädagogik, sondern eher aus der Richtung ‚Lernen in einer Kultur der Digitalität‘ mit Bildung beschäftigt, wird beim Lesen dieser Prinzipien sicherlich häufig zustimmend nicken. Denn Freinet spricht hier vielfach genau die Lernmethoden und erwünschten Kompetenzen an, die heutzutage oft unter dem Schlagwort ‚zeitgemäße Bildung‘ zu finden sind.
Freinet und ‚Lernen im digitalen Raum‘: ein Denkanstoß
Inwieweit passen diese Prinzipien und die Freinet-Pädagogik insgesamt aber ganz direkt zum Lernen in einer Kultur der Digitalität? Und inwieweit können sie uns heute helfen, wenn wir unter anderem speziell darüber nachdenken, welche Rolle das Internet, Tablets und Smartphones in Lernprozessen spielen können und sollen? Natürlich hat Freinet selbst dazu im letzten Jahrhundert noch nichts schreiben können, aber seine Texte können dennoch gute Denkanstöße bieten. Ich empfehle unter anderem diesen Text:
Seien wir ehrlich: wenn man es den Pädagogen überlassen würde, den Kindern das Fahrrad fahren beizubringen, gäbe es nicht viele Radfahrer.
Original in: C. Freinet: Les dits de Mathieu, 1967. Übersetzt und veröffentlicht auf der Website der Freinet-Kooperative
Bevor man auf ein Fahrrad steigt, muss man es doch kennen, das ist doch grundlegend, man muss die Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, einzeln, von oben bis unten, betrachten und mit Erfolg viele Versuche mit den mechanischen Grundlagen der Übersetzung und mit dem Gleichgewicht absolviert haben.
Danach – aber nur danach! – würde dem Kind erlaubt, auf das Fahrrad zu steigen. Oh, keine Angst vor Übereilung, ganz ruhig. Man würde es doch nicht ganz unbedacht auf einer schwierigen Straße loslassen, wo es möglicherweise die Passanten gefährdet. Die Pädagogen hätten selbstverständlich gute Übungsfahrräder entwickelt, die auf einem Stativ befestigt sind, ins Leere drehen, und auf denen die Kinder ohne Risiko lernen können, sich auf dem Sattel zu halten und in die Pedale zu treten.
Aber sicher, erst wenn der Schüler fehlerfrei auf das Fahrrad steigen könnte, dürfte er sich frei dessen Mechanik aussetzen.
Glücklicherweise machen die Kinder solchen allzu klugen und allzu methodischen Vorhaben der Pädagogen von vornherein einen Strich durch die Rechnung. In einer Scheune entdecken sie einen alten Bock ohne Reifen und Bremse, und heimlich lernen sie im Nu aufsteigen, so wie im übrigen alle Kinder lernen: ohne irgendwelche Kenntnis von Regeln oder Grundsätzen grapschen sie sich die Maschine, steuern auf den Abhang zu und … landen im Straßengraben. Hartnäckig fangen sie von vorne an und – in einer Rekordzeit können sie Fahrrad fahren. Übung macht den Rest.
Später dann, wenn sie besser fahren wollen, wenn sie einen Reifen reparieren, eine Speiche richten, die Kette wieder an ihren Platz setzen müssen, dann werden sie – durch Freunde, Bücher oder Lehrer – lernen, was ihr ihnen vergeblich einzutrichtern versucht habt.
Am Anfang jeder Eroberung steht nicht das abstrakte Wissen – das kommt normalerweise in dem Maße, wie es im Leben gebraucht wird – sondern die Erfahrung, die Übung und die Arbeit.
Verlasst (…) die Übungsräume: steigt auf die Fahrräder!
Ich habe mir mit diesem Text überlegt, ob sich hier einfach das Fahrrad durch das Smartphone ersetzen ließe. Wäre es so, dass niemand mehr ein Smartphone bedien könnte, wenn man es den Pädagog:innen überließe, Kinder in die Smartphone-Nutzung einzuführen? Und wenn das so wäre: Gibt es beim Smartphone etwas Äquivalentes zu einer ‚Scheune‘ mit einem ‚alten Bock ohne Reifen und Bremse‘, um damit selbst mit den Erkundungen zu beginnen? Sind geschützte Lernplattformen oder speziell entwickelte Lern-Apps wie Übungsfahrräder? Was sind die Fragen der Lernenden im Sinne von ‚besser fahren, Reifen reparieren, Kette an ihren Platz setzen‘ zu denen pädagogische Begleitung hilfreich sein kann? Wie könnte diese aussehen?
Fragen als Anstoß zur Entwicklung
Ich habe auf diese Fragen keine fertigen Antworten. Meine ersten Überlegungen gehen dahin, dass ich unsicher bin, inwieweit es in einem kommerzialisierten Internet ausreichend Freiräume gibt zum Erkunden, was ich sehr wünschenswert fände. Auch überlege ich, inwieweit die heutige Technik von Kindern entmystifiziert, d.h. sehr grundlegend untersucht und auf diese Weise verstanden werden kann. Hilfreich finde ich aber in jedem Fall , sich mit solchen Fragen auf die Suche zu machen nach den pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen im digitalen Raum. Denn das Ziel ist dann ein erkundendes und selbstbestimmtes Lernen und die Selbstermächtigung der Lernenden.
Ich werde zur Verbindung von Reformpädagogik und speziell der Freinet-Pädagogik und dem Lernen in einer Kultur der Digitalität sicherlich in der nächsten Zeit immer mal wieder Impulse und Reflexionen bloggen, weil ich die Ansätze und Ideen sehr aktuell und relevant finde für gutes Lernen für alle in und für die Gestaltung unserer heutigen Gesellschaft. Wie immer freue ich mich, dazu Deine Einschätzungen zu lesen. Maile mir gerne oder melde Dich auf Twitter zu Wort.
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