Die Kompetenz des kritischen Denkens – analysiert vor dem Hintergrund der KI-Debatte in der Bildung

Im Kontext von Bildung und Digitalisierung ist immer wieder von den so genannten 4K die Rede. Die Abkürzung steht für vier Kompetenzen: Kommunikation, Kreativität, Kollaboration und kritisches Denken. Diese vier Kompetenzen erscheinen in einer zunehmend digital-geprägten und vernetzten Welt immer wichtiger. In diesem Blogbeitrag greife ich die Kompetenz des kritischen Denkens auf. Mir geht es insbesondere um die Fragen, was kritisches Denken genau bedeutet und wie es sich in Lernprozessen entwickeln lässt. Ich analysiere diese Herausforderungen vor dem Hintergrund der aktuellen KI-Debatte in der Bildung.

1. Was genau ist kritisches Denken?

Die erste Assoziation zu kritischem Denken ist oft, dass es darum geht, etwas besonders kritisch zu sehen oder dagegen zu sein. Eigentlich ist hiermit aber gemeint, dass Menschen sich beständig selbst herausfordern, bei ihrem Wissen, ihren Überzeugungen und ihren Aktivitäten – unter Nutzung und Weiterentwicklung kognitiver Denkwerkzeuge – nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu streben. Kurz gefasst nennt man das oft auch einfach: „Selbst denken, statt nachplappern“.

Zum kritischen Denken braucht es Kenntnisse, Fähigkeiten und Dispositionen. (Die folgende Auflistung habe ich in der Reclam-Einführung von Jonas Pfister zum Thema kritisches Denken gefunden):

  1. Kenntnisse: Kritisch denkende Menschen wissen, wie Denken allgemein funktioniert. Sie wissen z.B. was ein Argument ist oder eine These und wie man sie prüft. Und sie kennen auch typische Denkfehler, die immer wieder auftreten können.
  2. Fähigkeiten: Kritisch denkende Menschen wissen nicht nur, wie Denken funktioniert, sondern können dieses Wissen auch in praktische Denkprozesse ‚übersetzen‘.
  3. Dispositionen: Kritisch denkende Menschen haben einen Handlungsantrieb, der sie aufmerksam sein lässt. Außerdem sind sie mutig, weil sie bereit sind, Dinge zu hinterfragen und offen, weil sie unterschiedliche Perspektiven einbeziehen. Schließlich streben sie auch nach Wahrheit, d.h. sie möchten zu Überzeugungen kommen, die wahr sind.

Das ist die allgemeine Darstellung zum kritischen Denken. Wenn man vor einer konkreten Herausforderung steht, dann benötigt man zusätzlich noch bereichsspezifische Kenntnisse, Fähigkeiten und Dispositionen.

2. Wie lässt sich kritisches Denken konkret umsetzen?

Nehmen wir an, eine Kollegin steht vor der Entscheidung, ob sie in ihren Lernangeboten generative Sprachmodelle einsetzen soll oder nicht. Eine typische Entscheidung ohne kritisches Denken könnte sein: „Mir wurde das bei einer Fortbildung empfohlen. Also setze ich das mal um!“. Ein anderes (und entgegengesetztes) Beispiel für eine Entscheidung ohne kritisches Denken könnte sein: „Ich habe bei KI kein gutes Gefühl. Das macht mir irgendwie Angst. Das lasse ich lieber.“

Übertragen auf die obigen Aspekte von kritischem Denken wäre stattdessen folgendes wichtig:

  1. Die Kollegin muss wissen, wie Denken funktioniert. Sie muss z.B. damit vertraut sein, wie bei einer Für- und Wider-Entscheidung Argumente abgewogen werden können bzw. sie muss wissen, was überhaupt ein Argument ist. Sie muss auch wissen, dass es zu Verzerrungen im Denken kommen kann. All das muss sie dann auch auf das Thema generative Sprachmodelle übertragen können und auch in Bezug auf dieses Thema grundlegende Kenntnisse haben.
  2. Die Kollegin muss dieses Wissen auch anwenden können. Das bedeutet, dass sie für sich z.B. eine These entwickelt und diese dann prüft, dass sie Argumente sammelt, dass sie unterschiedliche Meinungen einholt oder Beobachtungen anstellt und auswertet. Und auch hier gilt: Sie muss diese Handlungen für den Bereich der generativen Sprachmodelle gestalten können.
  3. Schließlich muss der Kollegin wichtig sein, zu einer guten und damit wahrhaftigen Entscheidung zu kommen. Das kann allgemein gelten und eine grundsätzliche Haltung sein. Ebenso muss ihr die Gestaltung von Lernangeboten und die dazu anstehende Entscheidung zum Thema generative Sprachmodelle so wichtig sein, dass das auch für diesen konkreten Fall gilt.

Wichtig finde ich bei dieser Darstellung, dass kritisches Denken eben nicht einfach nur eine Haltungsfrage ist, sondern dass dazu auch Kenntnisse und Fähigkeiten gehören. Diese sind nicht entweder vorhanden oder nicht vorhanden, sondern können durch Anwendung in der Praxis erlernt und weiterentwickelt werden. Zugleich kann solch eine Praxis des kritischen Denkens dazu beitragen, dass sich eine entsprechende kritische Denkhaltung entwickelt. (Wir treffen hier also auf einen ganz ähnlichen Zusammenhang, wie es ihn z.B. auch beim Thema Kollaboration gibt: Kollaboration hat natürlich sehr viel mit Haltung zu tun. Aber es braucht auch ganz praktische kollaborative Kompetenzen. Und beim Erlernen von diesen Kompetenzen wird zugleich auch eine entsprechende Haltung entwickelt).

Warum ist kritisches Denken aber überhaupt so eine große Herausforderung. Auf den ersten Blick könnte man ja durchaus denken, dass es ausreichend ist, aufmerksam zu sein und Augen und Ohren offen zu halten. Dann wird man schon mitbekommen, was richtig und was falsch ist und kann dann entscheiden. Doch so einfach ist es leider nicht.

3. Was sind typische Denkfehler?

Warum zu kritischem Denken mehr dazu gehört, als einfach die Augen und Ohren offen zu halten und dann zu entscheiden, wird deutlich, wenn man sich bestimmte typische Denkfehler vor Augen führt. Dabei handelt es sich um “Fehler‘, die beim menschlichen Denken immer wieder auftreten und die man mit etwas Nachdenken sicherlich auch bei sich selbst wieder entdecken kann.

  • Confirmation Bias: Menschen neigen dazu, an einmal entwickelten Überzeugungen festzuhalten. Deshalb versuchen sie tendenziell, Bestätigungen für diese Überzeugungen zu finden. Darstellungen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, werden dagegen eher ignoriert. Wenn ich z.B. überzeugt bin, dass generative Sprachmodelle das Lernen massiv verbessern können, dann werde ich um mich herum wahrscheinlich sehr viele Beispiele entdecken, die diese These stützen. Darstellungen, die auf Schwierigkeiten hinweisen und Fehler aufzeigen, nehme ich dagegen viel weniger wahr. Wenn ich aber der Überzeugung bin, dass generative Sprachmodelle tendenziell zur Verdummung von Menschen beitragen, dann sind es genau die Darstellungen, die mir als erstes auffallen – und ich nehme die positiven Darstellungen viel weniger wahr.
  • Ankereffekte: Wenn Menschen eine konkrete Zahl für etwas angeboten wird (absurderweise muss diese Zahl sogar nicht mal etwas mit der eigentlichen Herausforderung zu tun haben), dann orientieren sie sich bei ihrer Entscheidung an dieser Zahl – oft ohne noch einmal genauer darüber nachzudenken. Dieser Ankereffekt wird relativ oft genutzt und kann oft auch hilfreich sein, z.B. wenn bei einer Veranstaltung eine Empfehlung für einen freiwilligen Teilnahmebeitrag angegeben wird. Im Fall der generativen Sprachmodelle könnte ein Ankereffekt sein, dass mir von einem anbietenden Unternehmen empfohlen wird eine bestimmte Anzahl von Credits zu kaufen oder ein Abo-Modell in einem bestimmten Umfang abzuschließen – und ich das dann mache ohne noch einmal genauer darüber nachzudenken oder auch nachzurechnen.
  • Rahmungseffekte: Bei einem identischen Angebot entscheiden sich Menschen eher dafür, wenn die positiven Effekte der Folgen in den Vordergrund gestellt werden, als wenn auf die negativen Folgen aufmerksam gemacht wird. Außerdem werden sicheren Beschreibungen der Folgen der Vorzug gegeben gegenüber Unsicherheit. Das Angebot an sich ist aber identisch. Diese Rahmungseffekte machen deutlich, dass die Beschreibungen von Folgen (oder auch das ‚Framing‘) einen großen Einfluss darauf haben, welche Entscheidung von Menschen getroffen wird. Wenn ich also z.B. lese, dass eine KI-Anwendung die Lesekompetenzen von Schulanfänger*innen um 20 Prozent gesteigert hat, dann bin ich natürlich sehr viel mehr dazu geneigt, diese Anwendung zum Einsatz in Erwägung zu ziehen, als wenn ich lese, dass 5 Prozent der Schulanfänger*innen mit der Anwendung gar nicht zurechtkamen. Es könnte aber gut sein, dass in einer Studie beide Ergebnisse herauskamen.

Diese Denkfehler treten erst einmal unabhängig von der Digitalisierung auf. Menschen mussten schon immer einen Umgang damit finden, wenn sie kritisch denken wollten. In einer zunehmend digital-geprägten und vernetzten Welt wird die Bedeutung kritischen Denkens aber noch einmal größer.

4. Warum ist kritisches Denken in einer zunehmend digital geprägten Welt so wichtig?

In einer zunehmend digital-geprägten und vernetzten Welt gibt es erstens technische Entwicklungen, die dazu führen, dass Tatsachen schwieriger zu erkennen sind. Zweitens sorgen damit verbundenen soziale Entwicklungen für mehr Komplexität.

Technische Entwicklungen:

So genannte Fake News – also bewusst inhaltliche Falschdarstellungen, Verzerrungen oder Entkontextualisierungen, um damit für eine bestimmte Position zu agitieren (Beispiel: Die Kriminalitätsrate unter Migrant*innen ist deutlich höher als unter Nicht-Migrant*innen‘) – gibt es schon länger. Herausfordernder wird im Kontext von generativer Technik die Entwicklung und Verbreitung so genannter Deep Fakes. Während auch schon früher Bilder z.B. von einer Demonstration oder ein Statement einer Politikerin manipuliert werden konnten (oft auch nur z.B. durch einen bestimmten Winkel der Aufnahme oder durch ein gezieltes Rausschneiden eines Ausschnitts, was ohne Kontext zu einer anderen Aussage führte), können inzwischen täuschend echte Videos und Bilder generiert werden, die es so nie gegeben hat. Wenn man nicht zufällig selbst vor Ort war oder eine vertrauensvolle Person kennt, der einem darüber berichten kann, ist es erst einmal schwierig zu entscheiden, ob ein Video-Statement tatsächlich gehalten wurde oder ob die Messer-Attacke auf dem Bild tatsächlich stattgefunden hat – oder ob das ein Mensch mithilfe einer KI künstlich aber täuschend echt generiert hat. (Solche Deep-Fake-Technik ist zugleich eine wunderbare Möglichkeit für kreative Medienentwicklung und Memes. Aber das nur nebenbei, um daran zu erinnern, dass die Welt nie nur schwarz oder nur weiß ist …)

Neben Fake News wird im Kontext von generativen Sprachmodellen insbesondere das so genannte ‚Bullshitting‘ zu einer Herausforderung. Dabei handelt es sich um Inhalte, die nicht wegen ihres Inhalts erstellt und veröffentlicht wurden, sondern wegen eines anderen, dahinter liegeden Interesses. Dafür gibt es viele Beispiele:

  • Bots, die Kommentare auf Websites hinterlassen, um Backlinks zu erzeugen und die Website der Bot-Inhaber zu einem höheren Ranking zu verhelfen.
  • Blogbeiträge, die von ChatGPT oder anderen Tools geschrieben werden, um durch regelmäßigen Content auf der Website zu einem größeren Traffic zu kommen und damit höhere Einnahmen bei auf der Website geschalteten Werbung zu erzielen.
  • KI-generierte Vorschläge für Social Media Postings, die mit Prompts erzeugt wurden, die die vermuteten Kriterien der Algorithmen der Plattformen zur Verbreitung als Grundlage haben und somit eine möglichst große ‚Reichweite‘ erzielen sollen …

(Die Grenzen zwischen professioneller Inhaltsproduktion und Bullshitting sind fließend: Inspiration für Inhalte mithilfe eines generativen Sprachmodells zu entwickeln oder Texte mithilfe solch eines Tools prägnanter formulieren zu lassen, muss natürlich kein Bullshitting sein, wenn das Ziel ist, auf diese Weise einem inhaltlichen Anliegen mehr Gehör zu verschaffen … )

Soziale Entwicklungen:

Eine zunehmend digital geprägte Welt ist eine immer vernetztere Welt und damit eine komplexe Welt. Einfach übersetzt: Einzelne Aspekte einer Herausforderung lassen sich nicht isoliert von anderen Aspekten betrachten. Unsere Herausforderung ist somit, einen systemischen Blick darauf zu entwickeln.

Im Kontext der KI-Debatte in der Bildung ist ein typisches Negativ-Beispiel hierfür die Aussage: ‚Ich nutze generative Sprachmodelle einfach nur als Werkzeug‘. So verständlich solch eine Position auch ist (vor allem angesichts von Rahmenbedingungen, die wenig Raum für Selbstreflexion und eigenes Lernen bieten), so wenig zielführend ist sie. Denn natürlich ist ein generatives Sprachmodell niemals einfach nur ein Werkzeug, sondern seine Nutzung verändert zugleich die Art und Weise wie wir lehren, lernen und kommunizieren. Und das hat dann nicht nur Auswirkungen auf den Bildungsbereich, sondern natürlich auch gesamtgesellschaftliche Konsequenzen, die dann auch wieder auf den Bildungsbereich zurück wirken …

Sozial entscheidend ist außerdem die Frage eines impliziten Bias. Impliziter Bias meint, dass Menschen bei der Interaktion mit anderen Menschen oft unbewusst auf vorgefertigte Annahmen, Stereotype und Vorurteile zurückgreifen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Wenn in einem Vorstellungsgespräch an einer Hochschule z.B. eine Frau interviewt wird, dann könnten die interviewenden Menschen von vorneherein den Bias haben, dass diese Frau weniger geeignet ist als ein männlicher Bewerber. Hintergrund hierfür ist unter anderem, dass viele wissenschaftliche Leistungen von Frauen tendenziell unsichtbar waren und oft auch immer noch sind. Deshalb werden Männer implizit oft wissenschaftlich kompetenter eingeschätzt als Frauen. Mit der Leistung der konkreten Frau hat dieser Bias überhaupt gar nichts zu tun, aber wird eben trotzdem (oft unbewusst) angewandt. In einer komplexen Gesellschaft kann es angesichts von Vielfalt zu Orientierungslosigkeit und Unsicherheit kommen. Der Rückgriff auf solch einen Bias schafft hier schnelle Abhilfe, aber ist natürlich keine gute Lösung. Kritisches Denken wird also wichtiger.

Im Kontext von generativen Sprachmodelle wird Bias tendenziell verstärkt und verfestigt. Ohne gezieltes Entgegenwirken nutzen z.B. Sprachmodelle oder Bildgenerierungstools Trainingsdaten und Inhalte, die bias-behaftet sind. Das liegt einfach daran, dass Bias in unserer Gesellschaft Realität war und ist, was sich natürlich auch in den für die Entwicklung von KI-Modellen genutzten Inhalten des Internets widerspiegelt. Die Überwindung von Bias wird damit aber noch einmal schwieriger.

Damit habe ich jetzt viele Herausforderungen skizziert. Es bleibt die Frage: „Was tun?“

5. Wie lässt sich kritisches Denken lernen und lehren?

Bei der Frage „Was tun?“ finde ich es immer gut, erst einmal bei mir selbst anzufangen. Ich sollte also für mich als ‚lehrende Lernende‘ eine grundsätzliche Haltung für kritisches Denken entwickeln und in diesem Kontext auch entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten entwickeln. Das bedeutet also erstens: mehr Beschäftigung mit dem Thema kritisches Denken!

Zweitens hilft mir als grundsätzliche Orientierung, die man sich immer wieder in Erinnerung rufen kann, das so genannte Manifest des langsamen Denkens (siehe hier bei OverTheFence):

  • Fragen vor Antworten
  • Beobachten vor Bewerten
  • Perspektivwechsel vor Standpunkt
  • Selbstreflexion vor Fremdkritik

Und drittens gibt es bestimmte Routinen, die man für sich selbst entwickeln kann, um kritisches Denken konkret umzusetzen. Hier ist eine – sicherlich nicht abschließende – Liste an Möglichkeiten, die ich für mich hilfreich finde:

  • ‚Conformation Bias‘ bewusst entgegen wirken: Wenn ich von etwas überzeugt bin, dann suche ich sehr gezielt nach Darstellungen und Positionierungen von Menschen, die davon nicht überzeugt sind und setze mich damit auseinander. Um schon frühzeitiger dem Confirmation Bias entgegen zu wirken, hilft es, möglichst vielfältige Perspektiven im Blick zu haben und sich in diesem Sinne z.B. ein möglichst perspektivenreiches soziales Netzwerk zu gestalten.
  • Prüf- und Beratschlagungsfrage: Was kann schief gehen?: In eine ähnliche Richtung geht das Ziel, bei aufgestellten Thesen nicht primär nach Bestätigung, sondern nach Widerlegung zu suchen. Denn eine bestätigte These bringt mich erst einmal nicht weiter. Wenn ich aber eine These widerlegen kann (oder auch sie trotz Versuchen nicht widerlegen kann), dann wird meine These besser und es bringt mich weiter. Deshalb kann es – auch wenn es erst einmal widersinnig erscheinen mag und man dann Sorge hat, dass gar nichts mehr vorangeht, sondern alles blockiert wird – eine sehr gute Strategie sein, sich selbst oder andere gezielt danach zu fragen, was alles schief gehen könnte. Denn wenn es dann gelingt, trotz dieser möglichen Fehler ein Szenario zur Umsetzung zu entwerfen, dann wird das deutlich mehr akzeptiert und ist auch besser, als wenn ich auf solch eine Prüfung verzichten würde.
  • Die richtigen Fragen stellen: Aus unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich unterschiedliche Fragen. Und es ist immer gut, erst einmal zu überlegen, ob die Frage überhaupt richtig gestellt ist und mich bei einer Herausforderung weiterbringt. Im Kontext von generativen Sprachmodellen in der Bildung könnte ich z.B. die Frage stellen: „Wie können wir generative Sprachmodelle in der Lehre einsetzen?“ Ich muss mir aber bewusst machen, dass ich auch ganz andere Fragen stellen könnte und dann zu anderen Antworten bzw. Lernangeboten kommen würde. Möglich wäre beispielsweise auch die Frage: „Wie sollten wir unsere Lehre angesichts von generativen Sprachmodellen verändern?“
  • Alternativlosigkeit nicht akzeptieren: Wenn bestimmte Handlungen als alternativlos dargestellt werden (und auch ich laufe immer wieder Gefahr, das zu tun), versuche ich sehr aufmerksam zu sein und diese Alternativlosigkeit direkt infrage zu stellen. Im Kontext von generativen Sprachmodellen ist solch eine propagierte Alternativlosigkeit z.B. die Aussage, dass der Einsatz von KI-Sprachmodellen in der Lehre alternativlos ist. Hier lohnt es sich mindestens nach dem ‚Warum?“ zu fragen, aber noch besser danach, ob das tatsächlich stimmt oder ob es nicht ganz andere Alternativen geben könnte. Beispiel: Ist die KI-Entwicklung gesamtgesellschaftlich wünschenswert oder wäre eine Welt ohne KI oder eine Welt mit einer ganz anderen KI nicht ein wichtigeres Ziel. (Um nicht missverstanden zu werden: Das bedeutet dann nicht zwangsläufig, anschließend gegen den Einsatz von KI in der Lehre zu argumentieren, aber es hilft, eine klügere Position einzunehmen, eben weil man zunächst auch über mögliche Alternativen nachgedacht hat).
  • Kontextualisierung von Informationen: Wenn ich eine Information für mich nicht einordnen kann, dann bringt mich eine Beschäftigung mit der Information selbst oft nicht wirklich weiter. Hilfreicher ist stattdessen eine Kontextualisierung. Ich recherchiere also, was andere zu der Information sagen. So kann ich für mich ein perspektivenreiches Bild dazu erhalten und mir deutlich einfacher eine Position bilden. Im Beispiel KI könnte ich auf einen Artikel stoßen, der auf Basis einer Studie gegen den Einsatz von KI in der Lehre argumentiert. Wenn ich mir bei der Einordnung unsicher bin, dann recherchiere ich, was sonst noch dazu geschrieben wird: Fassen andere die Ergebnisse der Studie vielleicht ganz anders zusammen? Von wann und von wem ist die Studie? Was steht ansonsten noch drin? (Im Rahmen solch einer Kontextualisierung werde ich bei diesem Beispiel dann sicher auch die Original-Studie finden und kann mich damit auch direkt beschäftigen.)
  • Erkundungsräume einfordern und nutzen: Kritisches Denken bedeutet nicht, in Schockstarre zu verharren und gar nichts mehr zu tun, weil es angesichts so vieler Herausforderungen des kritischen Denkens unmöglich erscheint, zu einer guten Entscheidung zu kommen. Mir hilft es hier, kritisches Denken als eine kontinuierliche Herausforderung einzuordnen. Das bedeutet: Ich kann und sollte durchaus mit ersten Schritten starten, aber ich sollte dabei immer auch bereit sein, wieder umzukehren und einen anderen Weg zu wählen oder auch die Richtung im Laufen anzupassen. Anders gesagt: In Schockstarre und ohne solche Erkundungen ergeben sich weniger Irrtümer, aber kritisch denkende Menschen brauchen ja gerade diese Irrtümer, um klüger zu werden. In der KI-Debatte bedeutet das konkret, dass es mir kein Anliegen sein sollte, von mir selbst oder von Vorgesetzten eine ‚abgesegnete‘ Checkliste mit erlaubten Handlungen und genehmigten Tools zu erhalten. Stattdessen sollte ich einfordern, dass ich dazu im Austausch mit anderen lernen und erkunden darf.

In der Position als ‚lernende Lehrende‘ liegt mein Fokus dann noch zusätzlich darauf, nicht nur für mich selbst kritisches Denken zu entwickeln, sondern die Entwicklung hin zu kritischem Denken auch in Lernangeboten zu fördern. Mir erscheinen dabei drei Aspekte besonders wichtig:

  • Kritisches Denken als Lernziel anerkennen: Das bedeutet, dass ich meine Lernangebote so gestalte, dass ich nicht Wahrheiten verkünde, sondern zum selber Denken ermächtige. Und dass ich dazu auch ganz konkretes ‚Handwerkszeug‘ als Lernangebot entwickle und zur Verfügung stelle.
  • Sowohl als auch-Denken fördern: Menschen tendieren zu einem ‚Entweder Oder‘-Denken. In der KI-Debatte zeigt sich das oft darin, dass unterschiedliche Positionen gegeneinander gestellt werden. Da ist dann die eine Kollegin, die fasziniert von den Potentialen von ChatGPT für den Fremdsprachenunterricht berichtet und die andere Kollegin, die auf den hohen Ressourcenverbrauch des Tools oder beobachtete ‚Halluzinationen‘ in den Antworten aufmerksam macht. Es bringt in dieser Situation überhaupt nichts, herausfinden zu wollen, wer von den beiden Recht und wer Unrecht hat, denn im Kern sind beide Beobachtungen stimmig. Die Kunst des kritischen Denkens liegt darin, diese unterschiedlichen Perspektiven im Sinne eines ‚Sowohl-als auch‘ erst einmal zuzulassen, um auf dieser Basis zu guten Entscheidungen kommen zu können.
  • Authentische und selbstwirksame Lernangebote schaffen: Offensichtlich dürfte sein, dass Lernangebote, die auf Inputvermittlung und Abprüfung dieses vermittelten Wissens in Tests und Klassenarbeiten basieren, das kritische Denken weitaus weniger fördern, als authentische und selbstwirksame Lernangebote, in denen Lernende ausgehend von ihren eigenen Fragen bei der Erarbeitung möglicher Antworten begleitet werden. Ich finde im Kontext des kritischen Denkens besonders auch die Perspektive eines fächerverbindenden Lernens mit sowohl geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektive als auch mathematisch-naturwissenschaftlicher Perspektive spannend. Denn sehr oft hat kritisches Denken auch viel z.B. mit Berechnung von Wahrscheinlichkeiten oder Durchführung von Beobachtungen und Experimenten zu tun. Im Kontext von KI bedeuten solch authentische und selbstwirksame Lernangebote, dass Lernende zum Thema KI dann erkunden können sollten, wenn es für sie eine relevante Herausforderung ist. Bei ihren Erkundungen sollten sie dann bestmöglich zu Reflexion darüber eingeladen und dabei unterstützt werden.

Fazit

Das Schreiben des Blogbeitrags hat mir geholfen, das Thema kritisches Denken für mich zu sortieren und auf den Bereich von „KI‘ anzuwenden. Ganz sicher werde ich mich zukünftig noch weiter und intensiver damit beschäftigen. Sehr große Lust hätte ich auch auf die Gestaltung von Lernangeboten zu dem Thema, z.B. der Konzeption und Durchführung eines Fortbildungstages oder auch der Entwicklung von (Selbstlern)-Materialien. Wenn in deiner Organisation daran Interesse besteht, dann nimm gerne Kontakt zu mir auf. Außerdem freue ich mich auch über weiterführende Gedanken, Erfahrungsberichte oder Fragen.

Lizenzhinweis zum Beitragsbild: „Thinking statues“ von ruifernandes ist lizenziert unter CC BY 2.0.


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