Programmheft, Reiseführer und KI-Sprachmodelle

Wenn ich ins Theater gehe, kaufe ich mir gerne ein Programmheft. Bevor die Vorstellung beginnt, lese ich darin. Das Programmheft bietet eine kurze Zusammenfassung des Stücks sowie Hintergrundinformationen zur Inszenierung. Dieses Lesen macht mich nicht nur neugierig und vorfreudig auf die Vorstellung, sondern ich habe auch den Eindruck, dass ich durch die vorherige Lektüre mehr von der Vorstellung mitbekomme, als wenn ich einfach nur so zuschauen würde.

Ähnlich verhält es sich mit Reiseführern: Vor einer geplanten Reise kaufe ich mir einen Reiseführer, um die Reise für mich gewinnbringender gestalten zu können. Ich finde darin einen Überblick über spannende Sehenswürdigkeiten und kann gezielt Touren zu meinen Interessen zusammenstellen.

Was haben Programmheft und Reiseführer mit KI-Sprachmodellen zu tun?

Wenn ich mir meine entwickelten Lernstrategien in Bezug auf KI-Sprachmodelle vergegenwärtige, dann erinnern sie mich – wenn es um die Rezeption und das Verständnis von mir noch fremden Inhalten geht – sehr stark an erweiterte Möglichkeiten eines solchen Programmhefts oder eines Reiseführers. Wenn ich zum Beispiel auf ein Video, einen Podcast oder einen längeren Text stoße, den ich noch nicht kenne, dann kann ich mir zunächst eine Zusammenfassung generieren lassen. Das anschließende Lesen, Anschauen oder Anhören des Inhalts fällt mir dann leichter, weil mehrere Ankerpunkte zu dem Inhalt in meinem Kopf sind. Das ist insbesondere dann hilfreich, wenn der Inhalt mir anfangs sehr fremd ist. Die Möglichkeiten eines KI-Sprachmodells sind zu denen eines Programmhefts oder eines Reiseführers erweitert, weil ich, wenn ich etwas nicht verstehe, immer wieder nachhaken kann.

Wie beim Lesen des Programmhefts vor einer Inszenierung oder der Nutzung eines Reiseführers vor einer Reise, habe ich durch die Nutzung eines KI-Sprachmodells den Eindruck, dass der fremde Inhalt für mich zugänglicher wird und ich bei der Rezeption dann mehr davon profitieren kann.

Wo liegen pädagogische Herausforderungen?

Mir helfen die Metaphern von Programmheft und Reiseführer dabei, mir über die pädagogischen Herausforderungen von KI-Sprachmodellen klarer zu werden. Wie so oft ist dafür ein guter Ausgangspunkt, dass man sich zunächst die Frage stellt, was bei der Nutzung von Programmheften und Reiseführern auch schief gehen kann. Daraus ergibt sich dann, was pädagogisch im Umgang mit KI-Sprachmodellen nötig ist.

1. Nicht Abkürzung, sondern Vertiefung

Bei einem Programmheft oder einem Reiseführer geht es weniger um Effizienz (= ich muss gar nicht mehr den ganzen Inhalt lesen, weil ich kann ja auch eine Zusammenfassung bekommen), sondern um vertieftes Lernen (= die Auseinandersetzung vorab ermöglicht mir ein intensiveres Erlebnis). Es wäre wenig sinnvoll, sich ein Programmheft zu einer Vorstellung zu kaufen, durchzulesen und dann die Vorstellung zu verschlafen. Beim Reiseführer ist es ähnlich: Ich kaufe mir vor der Reise einen Reiseführer, um die Reise für mich anschließend gewinnbringender zu gestalten, aber in keinem Fall, weil ich dann ja ohnehin schon weiß, was es in der ausgewählten Gegend gibt und deshalb dann gar nicht mehr hinfahren muss. Das wäre ja ziemlicher Quatsch!

Bei der Nutzung von KI-Sprachmodellen kann aber genau das passieren. Das Sprachmodell wird dann nicht in sinnvoller Art und Weise genutzt, sondern als Abkürzung. Wie kommt es dazu?

Beim Verschlafen einer Theatervorstellung oder dem Verzicht auf eine Reise liegt der Grund sehr wahrscheinlich darin, dass ich selbst eigentlich gar keine Lust darauf hatte, aber von einer anderen Person gedrängt wurde. Oder ich möchte allgemeinen gesellschaftlichen und sozialen Erwartungen entsprechen. Dazu kann zum Beispiel gehören, dass ich beim Smalltalk schlaue Sachen über eine Theater-Inszenierung sage.

Solch eine Fremdbestimmung ist in unserem Bildungssystem zuhauf zu finden. Denn in den seltensten Fällen geht Lernen tatsächlich von den Lernenden aus. Hinzu kommt eine generelle Überlastung von Lernenden mit viel Stoff und jeder Menge Abfragen und Prüfungen. Vor diesem Hintergrund sind Abkürzungen beim Lernen, wie wir sie nun sehr niederschwellig mithilfe von ChatGPT und Co. erleben, kein neues Phänomen. Früher musste ich als lernende Person eben im Internet nach einer Zusammenfassung recherchieren oder mir für das Verständnis eines Romans eine Lektürehilfe besorgen. Nun kann ich mit einem KI-Sprachmodell chatten.

Als erstes Fazit können wir somit festhalten: KI-Sprachmodelle sind nicht der Auslöser, sondern nur ein weiteres Symptom für unerwünschte Abkürzungen beim Lernen. Wir können solche unerwünschten Abkürzungen beim Lernen verhindern, indem wir mehr Selbstbestimmung beim Lernen ermöglichen.

2. Nicht Abwehr, sondern Ermutigung

Wenn ich mir ein Programmheft oder einen Reiseführer kaufe, weil ich eine Theatervorstellung besuchen oder eine selbstorganisierte Reise antreten will, dann bin ich bereits auf einem ziemlich hohen Stand des Lernens. Ich habe wahrscheinlich bereits früher die Erfahrung gemacht, dass solche Theatervorstellungen oder Reisen für mich zugleich herausfordernd wie auch bereichernd sind – und ich traue mir zu, dass ich diese Erfahrung erneut machen kann. Deshalb mache ich mich aktiv auf die Suche nach solchen Lernmöglichkeiten. Ganz genau so ist aber auch das Gegenteil möglich: Ich denke nicht, dass mir Theater oder eine selbstorganisierte Reise irgendetwas bringen kann – und verzichte von vornherein darauf, mich auf so etwas einzulassen. Und wenn ich von irgendjemandem vielleicht dennoch einen Reiseführer oder ein Programmheft in die Hand gedrückt bekomme, dann fühle ich mich fremd und deplatziert und lasse es lieber doch bzw. lasse mich nicht darauf ein.

In unserem Bildungssystem geht es jeden Tag sehr vielen Lernenden so, dass sie sich fremd, deplatziert und „zu dumm“ finden. Solch ein Selbstbild ist kein Naturzustand, sondern bildet sich über konkrete Erfahrungen im Bildungssystem heraus. Viele kennen Sätze wie „die Mia kann eben kein Mathe“ oder „der Devrim kann sich eben nicht konzentrieren.“ Wir wissen aus zahlreichen empirischen Untersuchungen, dass solche Zuschreibungen vor allem mit der sozialen Herkunft verbunden sind. Wer aus einer einkommensschwachen und damit häufig auch bildungsfernen Familie kommt, dem wird in unserem Bildungssystem wahrscheinlich deutlich weniger zugetraut als jemandem aus dem meist auch finanziell besser gestellten Bildungsbürgertum.

Was hat das nun mit KI-Sprachmodellen zu tun? Ich finde hier die These wichtig, dass jede neue Bildungstechnologie potenziell dazu beiträgt, soziale Ungleichheiten unseres Bildungssystems zu verschärfen. Es sei denn, dieser Entwicklung wird gezielt entgegengewirkt. Im Kontext von KI-Sprachmodellen können wir feststellen, dass durch die Entwicklung kluger Lernstrategien und einer entsprechenden Nutzung sehr viel besseres Lernen möglich sein kann, als wenn ich auf solch eine Nutzung verzichte. Wer das dagegen nicht tut, bleibt potenziell zurück.

Reicht es somit aber aus, dass wir einfach alle Lernenden in der Nutzung von KI-Sprachmodellen schulen? Wenn wir uns hier wieder an das Bild des Theater-Programmhefts und des Reiseführers erinnern, dann wird die Antwort auf diese Frage ein klares „Nein“ sein. Denn es ist noch nicht die abschließende Lösung, dass wir nun einfach allen Lernenden ein Programmheft oder einen Reiseführer in die Hand drücken und ihnen zeigen, wie man darin lesen kann. Das Gefühl, sich fremd und deplatziert zu fühlen und sich deshalb nicht auf das Theater oder die Reise einzulassen, bleibt dann trotzdem bestehen. Zusätzlich und vor allem ist es entscheidend, dass wir Lernende ermutigen, sich auf den Weg zu machen und dass wir davon überzeugt sind, dass in allen von ihnen sehr viel Potential steckt, das sich entfalten kann.

Mein zweites Fazit lautet deshalb: Mindestens ebenso wichtig wie das Erlernen eines Umgangs mit der Technologie ist es, Lernende zu ermutigen, sich überhaupt auf neue Lernerfahrungen einzulassen und ihnen zuzutrauen, dass sie dabei vorankommen können. Dazu braucht es im Bildungssystem Zeit und Raum für Beziehungsarbeit sowie ein gezieltes Hinwirken auf ein Growth Mindset.

3. Nicht Abhaken, sondern Weiterdenken

Programmhefte und Reiseführer können, wie oben dargestellt, sehr hilfreich sein. Zugleich bergen sie aber auch das Risiko, dass ich die folgende Vorstellung oder die Reise nur eingeschränkt erlebe. Das ist immer dann der Fall, wenn ich nur ‚abhake‘, was ich vorher gelesen habe, und gar nicht offen dafür bin, auch zusätzliche oder ganz andere Dinge zu erleben. Gerade in Kombination mit einem sehr starken Mainstreaming (bestes Beispiel: Lonely Planet-„Geheimtipps“ bei Reiseführern) ist solch ein Phänomen sehr offensichtlich. (Vor diesem Hintergrund gibt es auch sehr gute und nachvollziehbare Gründe, sich erst einmal so auf eine Vorstellung einzulassen oder bei einer Reise einfach loszufahren und auf sich zukommen zu lassen, was einen erwartet.)

Um in unserem Bildungssystem erfolgreich zu sein, wird genau solch ein Abhaken belohnt. Es ist in der vorherrschenden Prüfungskultur verankert. Die Lernprozesse sind in der Regel geschlossen. Es ist nur wenig Raum dafür da, an etwas weiterzudenken und neue Ideen zu entwickeln. Erst in dieser Woche hat die Sonderauswertung der PISA-Studie zu Kreativität dem deutschen Bildungssystem bei dieser Kompetenz gerade mal einen Mittelplatz bescheinigt. Nur 50 Prozent der Jugendlichen geben an, dass ihre Lehrkräfte sie ermutigen, in der Schule originelle Ideen zu entwickeln. Im OECD-Durchschnitt sind es 64 Prozent. Als Hindernis wird insbesondere fehlende Zeit genannt.

Das führt uns zum dritten Fazit: Mehr Kreativität in Lernprozessen erreicht man nicht primär trotz oder wegen KI-Sprachmodellen. Stattdessen bedarf es auch hier in erster Linie struktureller Veränderungen. Grundlegend ist, dass wir mehr Offenheit bei Lernprozessen ermöglichen.

Und wie bekommen wir das hin?

Wenn wir mehr Selbstbestimmung in Lernprozessen, die Entwicklung eines Growth Mindsets und die Ermöglichung von Kreativität im Bildungssystem erreichen wollen, dann müssen wir das Rad nicht neu erfinden. Im Grunde sind die pädagogischen Theorien dazu schon seit vielen Jahren bekannt und werden insbesondere in reformpädagogischen Kontexten auch erfolgreich angewandt: Authentische Lernherausforderungen ausgehend von der Lebenswelt der Lernenden ermöglichen, mehr Zeit für Beziehungsarbeit und individuelle Begleitung sicherstellen sowie endlich eine Abkehr von einem auf Noten basierenden Prüfungssystem angehen. Die Existenz von KI-Sprachmodellen kann für uns ein weiterer Weckruf sein, um uns in diesem Sinne endlich auf den Weg zu machen. Ansonsten drücken wir Lernenden Reiseführer in die Hand und bringen ihnen bei, darin zu lesen, aber wir ermächtigen sie nicht dazu, die Reise für sich auch tatsächlich anzugehen und zu gestalten.

Mein sehr konkreter Vorschlag ist deshalb, bei pädagogischen Tagen und anderen Fortbildungsmöglichkeiten zu ‚KI‘ immer die Frage an den Anfang zu stellen, wie sich Bildung in einer KI-geprägten Welt verändern muss – und was insbesondere auch strukturell erste mögliche, kleine Schritte für solch eine Veränderung sein können. Das ist alles andere als einfach und wir sind dabei ganz bestimmt immer wieder mit vielen Hindernissen konfrontiert. Wenn wir aber alle Lernenden zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in einer zunehmend von KI-geprägten Welt und damit auch zu lebenslangem Lernen ermächtigen wollen, führt daran kein Weg vorbei.


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