KI-Lerntag zu Grundbildung und Beratung in Thüringen

Gestern war ich im thüringischen Neudietendorf zur Gestaltung eines KI-Lerntags für Kolleg*innen von VHS und Diakonie. Besonders vertreten waren Menschen, die in der Beratung und Grundbildung von Erwachsenen tätig sind. Ziel des Lerntages war es, nicht nur Orientierung zum Thema KI zu bieten, sondern auch einen kollegialen Lern- und Austauschraum für die Beteiligten zu schaffen, die sich oft nicht untereinander kannten. Daher war es besonders wichtig, den Tag offen, erkundend und beteiligungsorientiert zu gestalten.

In diesem Beitrag teile ich, wie ich vorgegangen bin. Für die Teilnehmenden dient der Beitrag gleichzeitig der Dokumentation.

Vor dem Lerntag: Eine Vorab-Umfrage

Vor dem Lerntag erhielten die Teilnehmenden eine kleine Umfrage von mir. Besonders wichtig war es mir, die Vorerfahrungen mit KI zu erfassen. Denn Peer-to-Peer-Lernen, das über ein erstes gemeinsames Ausprobieren hinausgeht, funktioniert meiner Erfahrung nach besser, wenn zumindest einige Lernende bereits erste Erfahrungen mit KI-Tools haben. Als sich in der Umfrage abzeichnete, dass es zwar einen großen Teil Newbies gab, aber auch einige mit bereits umfangreichen eigenen Erfahrungen, stand dem Peer-to-Peer-Lernen nichts im Wege.

Einstieg: Vorstellung mit 1-2-4-All

Die Methode „1-2-4-All“ stammt aus dem Methodenset der Liberating Structures. Die Idee ist, eine Frage zunächst für sich selbst zu klären, dann im Austausch mit einer anderen Person weiterzuverfolgen, anschließend in Vierer-Gruppen zu diskutieren und die Ergebnisse schließlich im Plenum zu teilen.

Ich habe diese Methode auf die Vorstellungsrunde übertragen. Zunächst überlegte jede Person für sich, was ihr Anliegen beim heutigen Lerntag ist. Dann suchte man sich die Person im Raum, die man bisher wahrscheinlich am wenigsten kennt. Mit dieser Person tauschte man sich zu der Frage aus und stellte sich in diesem Zusammenhang auch gegenseitig vor. Aus den Paaren wurden dann Vierer-Gruppen gebildet, in denen sich die Paare gegenseitig vorstellten. Abschließend ging es noch in Achter-Gruppen, in denen es nur noch um eine schnelle Namens-Rekapitulation ging.

Ich habe mich für diese Methode entschieden, weil ich erstens immer wieder die Rückmeldung erhalte, dass Menschen ungern gleich zu Beginn in einer großen und ihnen fremden Gruppe sprechen möchten. Mit dem 1-2-4-Ansatz erhält man zunächst Sicherheit durch den Austausch mit einer anderen Person. Zweitens wird die Gruppe durch die Aufforderung, sich mit jemandem zu verbinden, den man noch am wenigsten kennt, gut durchmischt. Drittens wird der Fokus auf das Zuhören gelegt, da man herausgefordert ist, die Austauschperson aus Runde 1 in der Vierer-Gruppe vorzustellen.

Grundlage: Ein schneller Impuls

Anschließend gab es einen kurzen Impuls von mir zu den Grundlagen von KI. Ich finde das inzwischen aus zwei Gründen wichtig, bevor man ins Erkunden einsteigt:

  1. Man erkennt die Funktionsweise von KI-Sprachmodellen nicht durch offenes Erkunden, da die Tools möglichst menschenähnlich gestaltet sind. Deshalb ist es hilfreich, vorab zu erklären, dass es bei dieser Technologie im Kern um Inhaltsgenerierung auf Basis riesiger Datenmengen geht, wobei die generierten Inhalte durch komplexe Wahrscheinlichkeitsberechnungen passend zur jeweils geschriebenen Eingabe entstehen. Mit diesem Hintergrundwissen kann man viel klüger mit diesen Maschinen interagieren als wenn ihre Funktionsweise ein großes Mysterium bleibt.
  2. Ich erlebe immer wieder, dass Menschen relativ sorglos persönliche Daten in ihren Prompts verwenden. Hier ist eine Warnung wichtig: Wenn man keine lokalen Installationen nutzt, sollte man keine Informationen eintragen, die man nicht auch auf einer Website veröffentlichen würde!

Die Folien musste ich nicht neu erstellen, sondern habe die Folien angepasst, die ich für ExcitingEdu in Dresden gestaltet hatte.

Start der Präsentation im Plenumsraum

Erkundung: Lernen an Stationen

Anschließend ging es direkt ans Ausprobieren und Erkunden. Ich teilte zunächst eine Liste mit den Überschriften der Stationen aus:

  • Einfach mal drauflos chatten …
  • Klüger prompten
  • Vorbereitung von Unterricht und Beratung
  • Nutzung von KI als Lerntool
  • Viel mehr als Text – z.B. auch Bilder
  • Custom GPT: Eine eigene KI?
  • Wie ist das mit dem Urheberrecht?
  • Das Problem von Bias
  • Immer gut: KI-Internetquatsch

Die Aufgabe war dann, sich im Raum an einer imaginären Linie entlang aufzustellen, je nachdem, welche Stationen man vorrangig bearbeiten wollte, wobei auf der einen Seite Station 1 (ein allererster Einstieg) und auf der anderen Seite die höheren Stationen mit spezifischeren und fortgeschritteneren Themen waren. So standen alle bei Menschen in der Nähe, die zu ähnlichen Themen erkunden wollten. Sie konnten sich dann zusammenfinden, einen Tisch zum Arbeiten suchen und mit den Erkundungen beginnen.

(Ich habe mich bewusst dazu entschieden, die Gruppen nicht mit Anfänger*innen und Fortgeschrittenen zu durchmischen, weil meiner Erfahrung nach den Fortgeschrittenen beim Thema KI sonst Raum zum Austausch fehlt und weil die Anfänger*innen auch selbst gut zurecht kommen, sich gegenseitig unterstützen können und ja auch ich jederzeit helfen kann.)

Die Inhalte der Stationen finden sich auf GitHub zur offenen Weiternutzung. Ich habe teilweise auf frühere Inhalte von mir zurückgegriffen und diese neu zusammengestellt. Zudem finde ich KI-Sprachmodelle bei der Gestaltung solcher einfachen HTML-Seiten eine wirklich nützliche Unterstützung.

Reflexion: Peer-Spaziergang

Von dem sehr praktischen Erkunden an den Stationen mit dem Fokus auf KI-Sprachmodelle als Werkzeug leitete ich im nächsten Schritt über zu den ethischen Implikationen. Ich mache das gerne so, dass ich mir auch selbst an die eigene Nase fasse und meine Dilemmata darstelle. In diesem Fall ging das sehr konkret, indem ich zeigte, wie ich bei der Erstellung der Stationen vorgegangen bin. Wie oben beschrieben, habe ich dabei ein KI-Sprachmodell insbesondere zur Übertragung der Inhalte in das HTML-Raster genutzt. Das Ergebnis war, dass ich deutlich schneller fertig war als ohne diese Unterstützung. Einerseits ist das erfreulich, andererseits entstehen aber innere Zweifel, ob das so in Ordnung ist und ob ich das so nutzen möchte. Denn um das zu ermöglichen, wurde eine Menge überwiegend schlecht bezahlte Filter- und Klassifikationsarbeit von Menschen im globalen Süden geleistet. Außerdem habe ich mich an einer enormen Ressourcenverschwendung beteiligt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das bisschen Vereinfachung meiner Arbeit diese Schattenseiten wert sind …

Um solche und weitere Fragen zu reflektieren, lud ich die Teilnehmenden zu einem Peer-Spaziergang ein. Sie erhielten eine Tüte mit fünf Denkanstößen (angepasst von meinen Denkanstößen zu KI) und Bonbons als Stärkung, und waren eingeladen, sich zu Dritt oder Viert zusammenzuschließen und eine halbe Stunde gerne spazierend über diese ethischen Implikationen zu reflektieren.

Die Denkanstöße waren:

  1. Große Sprachmodelle basieren auf menschlicher Arbeitskraft. Besonders fließen von Menschen gestaltete Inhalte, entwickelte Programmierungen und Klassifikations- und Filterarbeit ein. Diese menschliche Arbeitskraft ist größtenteils in den globalen Süden ausgelagert und schlecht bezahlt.
  2. Große Sprachmodelle reproduzieren die Vergangenheit. Beispiel: Bild-KIs zeigen oft weiße Männer, wenn nach einer Person gefragt wird, die auf einer Konferenz redet.
  3. Wer von KI-Sprachmodellen profitiert und wer darunter leidet, ist sehr ungleich verteilt. Oft gilt das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben (und umgekehrt).
  4. KI-Technologie ist nicht neutral. Sie ist Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse (z.B. was ist die Datenbasis? Wie sind die Einstellungen? Welche Filter sind wirksam?). Bei Modellen großer Anbieter wie ChatGPT von OpenAI gibt es darüber keine Transparenz und keine Mitgestaltungsmöglichkeiten.
  5. KI-Technologie erfordert immense Ressourcen bei der Entwicklung und Nutzung. Dies geschieht in einer Zeit, in der wir gesamtgesellschaftlich ohnehin vor oder an Kipp-Punkten im Klimawandel stehen.

Auf der Außenseite der ‚Zetteltüte‘ hatte ich eine mögliche Vorgehensweise gedruckt – angelehnt an die What? So what? Now what? – Methode: Was steht da? Was bedeutet das für uns? Wie können wir damit umgehen?

Ausgepackte Tüte für den Spaziergang

Für diese Methode war es sehr förderlich, dass unser Tagungsort – das Zinzendorfhaus in Neudietendorf – über ein wirklich schönes Außengelände verfügt. Auch das Wetter lud sehr zum Spazierengehen ein.

Blick auf das Außengelände im Zinzendorfhaus

Zwischenfazit: Silent Writing

Als alle vom Peer-Spaziergang zurück waren, nutzten wir die verbleibende halbe Stunde bis zur Mittagspause für ein Silent Writing und den Austausch darüber. Während des Spaziergangs hatte ich Metaplankarten in drei Farben auf den Tischen verteilt, die nun zunächst in einem fünfminütigen stillen Schreiben ausgefüllt werden sollten:

  1. Was war dein wichtigstes Learning bisher?
  2. Welche Verständnisfrage hast du noch?
  3. Zu welcher Frage möchtest du dich am Nachmittag austauschen?
Fragen zum Silent Writing

Nach dem Aufschreiben begannen wir mit dem Austausch zur gelben Learning-Karte. Alle waren eingeladen, sich im Raum zu bewegen und ihr Learning mindestens zwei anderen Personen vorzustellen. Anschließend wurden die Karten vorne abgelegt, sodass sich alle schnell einen Überblick über die Learnings der anderen verschaffen konnten.

Im nächsten Schritt ging es um die grünen Karten mit den Verständnisfragen. Die Aufgabe war, zunächst in der Gruppe eine Person zu finden, die die Frage beantworten konnte. Falls niemand gefunden wurde, konnte man die Karte bei mir abgeben. Ich beantwortete die noch offenen Fragen dann für alle im Plenum. Interessanterweise bezogen sich die meisten Fragen auf die im Peer-Spaziergang diskutierten ethischen Aspekte, insbesondere die Frage, welche menschliche Arbeitskraft hinter KI steckt. Ich habe dazu weiterführende Informationen versprochen und empfehle …

(Danke an die Ergänzungen, die ich zu meinem Post im Fediverse bekam)

Zu den Fragen der Ressourcen von KI habe ich auf meiner Website diese Notiz mit Verweisen auf weiterführende Studien.

Die „Fragen für den Nachmittag“ haben wir nicht weiter thematisiert, sondern nur gesammelt und für alle sichtbar ausgelegt. Ich habe angekündigt, dass diese die Grundlage für das Mini-Barcamp am Nachmittag sein können.

Blick auf den Kartentisch für den Nachmittag

Vertiefung: Mini-Barcamp

Nach dem Mittagessen ging es weiter mit einem Mini-Barcamp. Für viele war diese Methode neu, und ich erklärte kurz, dass wir nun gemeinsam das Programm gestalten würden. Ich lud dazu ein, Fragen und Themen zu nennen, die man noch behandeln wollte. Dazu konnte man auch die am Vormittag geschriebenen Karten verwenden.

Leider gestaltete sich die Sessionplanung etwas mühselig. Vielleicht lag das am Mittagstief. Ich war daher sehr froh, dass wir am Vormittag Fragen gesammelt hatten. So konnte ich diese aufgreifen, fragen, wer noch Interesse daran hatte, und die entsprechende Karte bei Interesse dann im Sessionplan ergänzen. (Ich werde mir diesen Trick der Vorab-Fragen-Sammlung für Gruppen merken, bei denen ich die Barcamp-Beteiligung nicht einschätzen kann.)

Unser Sessionplan fürs Mini-Barcamp

Insgesamt gab es die folgenden Sessions:

  • Austausch zu Möglichkeiten von ChatGPT
  • Wie funktionieren Custom GPT?
  • Wie kann man KI-Technologie in Beratungen nutzen?
  • Umgang mit KI-generierten Prüfungsleistungen
  • Offenes Ausprobieren von KI-Tools
  • Wie gelingt es, Menschen mit wenig digitaler Nähe an KI-Technologie heranzuführen?
  • Wie steht es um KI und soziale Gerechtigkeit?

Ich hatte vorab eine einfache Dokumentationsumgebung mit Etherpads angelegt (Pro-Tipp hierfür: Das Übersichts-Etherpad schreibgeschützt teilen!). Dies wurde jedoch nur von einer Gruppe genutzt, die dabei noch das schöne Learning machte, wie einfach es sein kann, einen analogen Mitschrieb in das Etherpad digital zu überführen (Foto vom Mitschrieb machen, bei ChatGPT hochladen und Prompt schreiben: „Gib mir aus, was hier steht.“ Anschließend Möglichkeit zur Ergänzung: „Formuliere jeden Punkt in max. einem Satz aus.“).

Diese Ideen zur Nutzung von ChatGPT und Co wurden festgehalten:

  • Übersetzungen können in verschiedene Sprachen durchgeführt werden.
  • ChatGPT kann Bilder und Handschriften, wie z.B. Pflanzen, erkennen.
  • Bildbeschreibungen sind möglich.
  • Perplexity.ai bietet Textausgaben mit Quellenangaben.
  • Hypothetische Fragen können gestellt werden.
  • Detailliertere und präzisere Fragen führen zu genaueren Antworten.
  • Der Kontext bleibt während des gesamten Gesprächs eines Chats erhalten.
  • Einfache Arbeitsblätter können erstellt werden.
  • Es ist möglich, der KI eine Identität zuzuweisen.
  • Höflichkeit wie „Bitte“ und „Danke“ kann die Ergebnisse verbessern.
  • Texte können in leichte Sprache umformuliert werden.
Screenshot der Übersichtsumgebung zur Sessiondokumentation

Abschluss: Kollaborative Kugellager-Umfrage

Zum Abschluss habe ich eine kollaborative Kugellager-Umfrage durchgeführt. Das bedeutete, dass alle sich zu unterschiedlichen Fragen in Form eines Speeddatings positionieren konnten. Ausführlich habe ich die Methode (inklusive der genutzten Materialien) bereits gestern in meinem Blog beschrieben. Hier teile ich zur Dokumentation noch die ausgefüllten Umfrage-Zettel der Gruppe.

Ursprünglich wollte ich die Methode an den Anfang setzen, um damit auch Kennenlernen zu ermöglichen. Im Rückblick bin ich über die Nutzung als Abschluss aber sehr froh, weil es zuvor für einige sicherlich sehr herausfordernd gewesen wäre, sich zu den Fragen ohne vorherige Reflexion und Austausch zu positionieren. Zum Abschluss gab es dann für alle das gute Gefühl, dass man sich eine eigene Orientierung im Laufe des Tages erarbeitet hat.

Fazit

Herzlichen Dank an die Kolleg*innen in Thüringen für die Einladung, die gute gemeinsame Vorbereitung und den sehr lebendigen und anregenden Tag. Jederzeit gerne wieder. Für alle, die nicht mit dabei waren, aber genutzte Methoden und Materialien weiter nutzen wollen, wünsche ich viel Freude und Erfolg damit.


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