Adorno: Technologischer Schleier

Vor dem Hintergrund der aktuellen, politischen Entwicklungen und meines gestrigen Blogbeitrags zu Bildung und Demokratie habe ich mich an den Text ‚Erziehung nach Auschwitz‘ von Adorno erinnert. Die Textfassung habe ich hier gefunden.

Die Lektüre des Textes fand ich insgesamt lohnend. Hängengeblieben bin ich aber vor allem an einem Abschnitt, in dem Adorno über das Verhältnis zur Technik in der Erziehung schreibt und einen so genannten ‚technologischen Schleier‘ kritisiert, bei dem Technik überhöht und als Selbstzweck eingeordnet wird. Ich finde eine Reflexion über diesen Passus vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen KI-Debatte wichtig und spannend.

Im folgenden zitiere ich die Passage:

(…) Eine Welt, in der die Technik eine solche Schlüsselposition hat wie heute, bringt technologische, auf Technik eingestimmte Menschen hervor. Das hat seine gute Rationalität: in ihrem engeren Bereich werden sie weniger sich vormachen lassen, und das kann auch ins Allgemeinere hinaus wirken. Andererseits steckt im gegenwärtigen Verhältnis zur Technik etwas Übertriebenes, Irrationales, Pathogenes. Das hängt zusammen mit dem „technologischen Schleier“. Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen, dass sie der verlängerte Arm der Menschen ist. Die Mittel – und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch – werden fetischisiert, weil die Zwecke – ein menschenwürdiges Leben – verdeckt und vom Bewusstsein der Menschen abgeschnitten sind. Solange man das so allgemein sagt, wie ich es eben formulierte, dürfte es einleuchten. Aber eine solche Hypothese ist noch viel zu abstrakt. Keineswegs weiß man bestimmt, wie die Fetischisierung der Technik in der individuellen Psychologie des einzelnen Menschen sich durchsetzt, wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überwertung, die schließlich dazu führt, dass einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergisst, was in Auschwitz mit ihnen geschieht. Bei dem Typus, der zur Fetischisierung der Technik neigt, handelt es sich, schlicht gesagt, um Menschen, die nicht lieben können. Das ist nicht sentimental und nicht moralisierend gemeint, sondern bezeichnet die mangelnde libidinöse Beziehung zu anderen Personen. Sie sind durch und durch kalt, müssen auch zuinnerst die Möglichkeit von Liebe negieren, ihre Liebe von anderen Menschen von vornherein, ehe sie sich nur entfaltet, abziehen. Was an Liebesfähigkeit in ihnen irgend überlebt, müssen sie an Mittel verwenden. (…)

Adorno: Erziehung nach Auschwitz