Ich habe das Buch ‚Wir sind Gedächtnis‘ von Martin Korte gelesen. Der Untertitel lautet: ‚Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind‘. Mein Interesse an dem Buch ergab sich vor dem Hintergrund der aktuellen KI-Debatte, die uns ja immer wieder auch auf uns selbst zurückwirft. Die Frage ist dann: Was macht eigentlich uns als Menschen aus? Außerdem ist die Reflexion spannend, wie eine kluge Mensch-Maschine-Interaktion aussehen könnte.
Martin Korte schreibt mit vielen Details aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Er erklärt dabei sehr genau, welche Prozesse wie genau im Kontext von Erinnern (und damit auch Lernen) in unserem Gehirn ablaufen. Ich bin hier nicht in Tiefe eingestiegen – dazu fehlt mir auch einiges an Grundlagenwissen in diesem Bereich. Aber ich nehme trotzdem einige für mich wichtige Kernaussagen aus der Lektüre mit.
- Martin Korte stellt das Gehirn als sehr komplex dar. Nicht nur aufgrund zahlreicher Vernetzungen und Verbindungen, die zwar inzwischen immer besser, aber längst noch nicht abschließend erforscht sind. Noch viel wichtiger fand ich seine Darstellung vom Gedächtnis als Prozess. Demzufolge können wir uns unser Gedächtnis nicht wie eine Art Festplatte vorstellen, auf der Informationen und Erinnerungen gespeichert sind und abgerufen werden können. Stattdessen findet beim Erinnern immer eine aktive Rekonstruktion von Gewesenen auf Basis der abgespeicherten Erinnerungen, gelernten Fakten und aktuellen Perspektiven statt. Erinnern ist damit etwas sehr Individuelles und zugleich Veränderliches.
- Wie auch schon im zuletzt gelesenen Buch ‚Curious‘ bin ich auch in diesem Buch wieder auf die Notwendigkeit von reichhaltigen und vielfältigen Erfahrungen gestoßen, damit wir uns als Menschen entwickeln können. Wir müssen uns Dinge aneignen, damit sie in unser Gedächtnis gelangen. Vielfältige und bewusst wahrgenommene Sinneseindrücke (insbesondere auch Gerüche) können dabei hilfreich sein. Interessant fand ich bei Martin Korte die Bedeutung von Schlaf, damit sich Gelerntes im Gedächtnis einprägt: Wenn wir etwas neu gelernt haben, dann ist es sehr hilfreich, wenn wir in der folgenden Nacht gut schlafen, um das neu Gelernte verarbeiten zu können. Nachträglich funktioniert das aus neurowissenschaftlicher Perspektive deutlich schlechter.
- Im Kontext von KI wird ja vielfach auf die immensen Möglichkeiten beispielsweise von generativen Sprachmodellen hingewiesen. Ich fand es vor diesem Hintergrund hilfreich, auch mal wieder die immense Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns aufgedröselt zu bekommen. Klar ist aber auch: diese Leistungsfähigkeit ist ein Potential. Wenn wir es nicht anregen, verkümmert es.
- Durch die Funktionsweise des Gedächtnisses als vernetzter Prozess erscheint eine Mensch-Maschine Interaktion im Sinne einer simplen ‚Erweiterung‘ des menschlichen Gehirns um eine Maschine als eine Art ‚externe Festplatte‘ nicht sinnvoll. Dazu funktionieren die beiden Systeme zu unterschiedlich – und wir Menschen benötigen ja gerade eine eigene Speicherung von Erfahrungen, um diese dann aktiv nutzen zu können.
- Für Kreativität wird sowohl intensive Auseinandersetzung mit einem Inhalt, als auch Abstand benötigt. Grundsätzlich lässt sich Kreativität entwickeln, indem man für mehr Elastizität im Gehirn sorgt. Dazu sollte man sich zwingen, Dinge immer mal wieder anders zu machen als gewohnt. Dann bleibt es nicht bei wenigen, tief eingegrabenen Verbindungen, sondern es entstehen mehr und feinere Verästelungen. In diesem Bereich wird das Buch sehr konkret und schlägt z.B. eine Wochen-Challenge vor, in der man immer mal wieder Dinge anders angehen soll (Zähne mit der anderen Hand putzen, Namen rückwärts sprechen, andere Orte zum Essen wählen und bewusst wahrnehmen …)
- Martin Korte hat insgesamt einen eher skeptischen Blick auf den Einfluss des digitalen Wandels auf unser Gehirn – insbesondere aufgrund der ständigen Verfügbarkeit von Informationen und der zahlreichen Reize, die auf uns einströmen. Aus neurowissenschaftlicher Perspektive findet er vor allem die Herausforderungen des Multitaskings tendenziell schädigend für das Gedächtnis. Dazu reflektiert er auch den so gebannten Flynn-Effekt, wonach Menschen bis in die 90er Jahre einen höheren IQ entwickelten, der ab dann aber stagnierte. Aus seiner Perspektive sorgen zahlreiche, parallele Reize im Gehirn für gegenseitige Blockaden. Es kann sich dann gar nichts mehr vertieft ins Gedächtnis einprägen. Digitalisierung in der gegenwärtigen Form könnte menschliche Entwicklung somit erschweren. Sympathisch finde ich, dass er zugleich andeutet, dass er damit auch falsch liegen kann. Schließlich hätten sich auch früher schon Menschen bei Vorhersagen über die Zukunft ziemlich geirrt.
Hier sind meine Kritzelnotizen zum Buch:

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