Ich habe das Buch Echtzeit von Michael Matthiass gelesen. Für mich passte es sehr gut zu meiner aktuellen Reflexion nach der Entwicklung von originär menschlichen Werten im Kontext von immer intelligenteren Maschinen.
Im folgenden versuche ich mich zunächst an einer ganz groben Zusammenfassung und Einordnung. Danach halte ich (noch nicht fertig reflektierte) Stichpunkte fest, was intuitives Denken für die Pädagogik bedeuten könnte.
Versuch einer Zusammenfassung
Der Ausgangspunkt von Michael Matthiass ist, dass Menschen über Kreativität verfügen. Eine Kreation ist für ihn lebendige Information, die nicht einfach etwas abbildet, sondern uns berührt bzw. bewegt. Konkreter handelt es sich somit oft um Analogien, d.h. eine noch nie dagewesene Kombination, die einen Raum und eine Geschichte aufspannt. Sowohl die Entwicklung als auch die Rezeption funktioniert über unser entwickeltes Weltverständnis bzw. unsere Erfahrungen. Kreativität erfordert somit Analyse als auch Intuition.
Mit der wissenschaftlichen Revolution ist die Intuition in unserer Gesellschaft sehr stark in den Hintergrund gedrängt. Das ist fast schon tragisch, weil der Mensch alles dransetzt, um die Natur zu beherrschen, aber beherrschte Natur wird leblos. Und auch Kreation braucht Offenheit, um zu funktionieren.
Inzwischen werden Menschen zum Glück zunehmend neugierig auf die Intuition. Eine Beschäftigung damit ist aber oft gar nicht so einfach, weil es zunächst einmal viele Missverständnisse gibt, was Intuition sein könnte, aber nicht ist:
- Intuition sind nicht Instinkte. Das sind programmierte körperliche Reaktionen.
- Intuition sind auch nicht Impulse, die man vielleicht als Instinkte des Geistes bezeichnen könnte.
- Intuition zeigt sich oft als Gefühl, aber ist kein Gefühl. Gefühle können Intuition stattdessen sogar sehr stark stören.
- Intuition ist auch nicht mit einer Erkenntnis gleichzusetzen. Sie ist vielmehr ein mögliches Ergebnis von Intuition.
An besten fasst man Intuition vielleicht als den ’nicht-bewussten‘ Bereich. Dieser spielt in sehr unterschiedlichen Bereichen zunehmend eine Rolle. Wissenschaftler*innen nutzen Intuition zum Beispiel, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – und sprechen da auch offen darüber. Ärzte nutzen Intuition, um in lebensbedrohlichen Situationen schnell zu einer richtigen Entscheidung zu gelangen. Und schließlich gibt es Intuition eben auch im kreativen bzw. auch im spirituellen Bereich: Plötzlich ist eine Idee da – und sie fühlt sich genau richtig an!
Um Intuition besser zu fassen, muss man erst einmal anerkennen, dass sie sehr viele unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Es gibt empirische Intuition, transzendente Intuition und eben vor allem auch die kreative Intuition, die sich in eine wahrnehmende (= ‚Ja, das ist gut!‘) und eine schöpferische (= ‚Ja, das ist die Idee!‘) unterteilen lässt.
Spannend ist dann vor allem die Frage, wie Intuition funktioniert. Die Antwort von Michael Matthiass ist, dass Intuition uns Zugang zu den universellen Harmonien gibt, in der ’stillen Zone‘ (= dem nicht-bewussten Teil unseres Denkens) entwickelt wird und sich in der ‚Echtzeit‘ (= den situativen, plötzlichen, großen Erfahrungen/ Erlebnissen) zeigt. Die Grundlage ist hierfür das assoziative Netzwerk (= unsere komprimierten Lebenserfahrungen in Beziehung zu unserem Selbst gesetzt).
Die universellen Harmonien dürfen nicht als ’spannungsfrei‘ missverstanden werden. Sie sind stattdessen sogar ganz im Gegenteil eine ‚Vereinigung von Gegensätzen‘. Im Buch werden diese universellen Harmonien genannt: Klarheit, Ganzheit, Rhythmus, Polarität, Balance, Story, Entwicklung, Bruch (Twist), Symbol, Analogie, Selbst und Universum.
Übergreifend muss man sich dabei klar machen, dass die Intuition in der Echtzeit erkannt wird, leise ist und Ruhe braucht, in Bildern und ohne Begründung ’spricht‘, sich im Körper zeigt und ‚aus der Tiefe‘ (= dem assoziativen Netzwerk) kommt. Hinderlich ist der Versuch, die Intuition zu kontrollieren, Ängstlichkeit, Faulheit, Eitelkeit, Geschmack und Zweifel (in einer nicht konstruktiven Form).
Die große Herausforderung des intuitiven Denkens ist nun, weder allein auf die Intuition noch allein auf die Analyse zu setzen, sondern beide in ein produktives Zusammenspiel zu bringen. Man kann dieses Zusammenspiel von Intuition und Analyse gut in einem Bild verdeutlichen:
- Die Analyse ist ein Ruderer in einem kleinen Ruderboot auf dem Meer.
- Die Intuition ist ein riesiger Wal, der tief unten in das Meer reicht und für den Ruderer nicht direkt sichtbar ist.
- Ein Zusammenspiel der beiden kann sich über die Wasseroberfläche ergeben.
Solch ein Zusammenspiel ist insbesondere im kreativen Prozess und dann in einem Dreischritt möglich: Zunächst wird der Kern herausgearbeitet: Was ist das Anliegen? Worum geht es? Hier arbeitet die Intuition mit. Anschließend folgt die Phase der Kreation, in der die Intuition führt. Die dritte Phase ist dann die Kritik, in der es wichtig ist, nicht alles mit Analyse anzuzweifeln, sondern den Bereich der Kritik von der Intuition festlegen zu lassen.
Warum ist intuitives Denken pädagogisch spannend?
Für mich ergeben sich aus diesen Inhalten zahlreiche pädagogische Herausforderungen und Fragen:
- Ich kann mir gut vorstellen, dass der Spielraum für und die Neugier auf Intuition mit der Entwicklung von künstlicher Intelligenz wächst. Es stellt sich die Frage: Was macht uns als Menschen aus?
- Intuition ist keine erlernte Kompetenz, sondern ein Zugang zu den universellen Harmonien. Trotzdem ergeben sich natürlich zahlreiche pädagogische Herausforderungen. Insbesondere:
- Wie kann man diesen Zugang lehren und lernen?
- Wie lässt sich ein assoziatives Netzwerk entwickeln, was braucht es dazu? (Erster Einfall: die von Reinhard Kahl angemahnte ‚radikale Gegenwart‘ in der Bildung)
- Ist intuitives Denken eine mögliche oder sogar die entscheidende Antwort auf die Herausforderung des Umgangs mit Komplexität, das als Bildungsziel immer wichtiger wird?
- Könnten wir den Prozess der Kreativität mit Kern, Kreation und Kritik auf Lernprozesse übertragen und damit tatsächlich offene Lernprozesse realisieren? Solch eine Übertragung könnte sein: 1. Anliegen entwickeln/ gute Fragen stellen 2. Gestalten 3. Reflektieren.
- Kommen wir mit intuitivem Denken zu einem veränderten Bildungsziel – gerade, wenn wir noch das Potential von Mensch-Maschine-Interaktion dazu nehmen – was nicht mehr nur individuelle Entwicklung ist, sondern uns als Menschheit insgesamt weiter bringt?
Fazit
Mich wird das Buch sicher noch länger beschäftigen. Zur Lektüre kann ich es sehr empfehlen. Vor allem auch, weil es sehr unterhaltsam geschrieben ist und das Lesen viel Freude macht.
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