Dieser Artikel ist eine Dokumentation von meinem fünften Experiment bei Kreation 2.0 – meiner Kreativitäts-Challenge im Kontext von KI. Ich habe es am 19. Dezember 2024 durchgeführt.
Idee
Zu kreativen Lernprozessen gehört immer auch die Retrospektive dazu: Was haben wir wie neu gedacht und was lernen wir daraus? Auf individueller Ebene sind solche Retrospektiven gerade jetzt zum Jahresende hin sehr beliebt. Dazu gibt es auch immer mehr generative KI-Tools, die – basierend auf den eigenen Social Media Aktivitäten – Rückblicke für einen schreiben. Für mein heutiges Experiment habe ich mir vorgenommen, solch ein Tool für mich einmal auszuprobieren und auf seine ‚Reflexionsförderlichkeit‘ hin zu überprüfen.
Prozess
Ich finde es grundsätzlich sehr spannend, von Technik, die ich nutze, zurück gespiegelt zu bekommen, wie ich das mache. Deshalb bin ich an das Experiment sehr aufgeschlossen herangegangen.
Schritt 1: Auf LinkedIn habe ich einige Postings entdeckt, in der Menschen einen von Coauthor.studio erstellten Rückblick (= Rewind) zu ihren LinkedIn Beiträgen in 2024 teilten. Der Rückblick besteht aus einem kurzen Text und einer Grafik-Karte mit den wichtigsten Aussagen. Das Tool lässt sich ohne Registrierung nutzen. Ich brauche eine Mailadresse und den Link zu meinem LinkedIn-Profil. Dann bin ich in der Warteschlange. Nach rund 30 Minuten erhalte ich eine Mail, dass mein Ergebnis nun vorliegt:
Das hier ist der generierte Text – von mir nicht bearbeitet, sondern 1:1 kopiert:
Ich habe 2024 viel über KI in der Bildung nachgedacht und experimentiert. Meine wichtigste Erkenntnis: Wir sollten KI weniger als Werkzeug und mehr als Anlass für grundlegende Veränderungen der Lernkultur verstehen.
Was ich 2024 konkret gemacht habe:
- Neue Workshop-Formate entwickelt und offen geteilt (z.B. „analoges Mentimeter“, „digitale Pop-up Stationen“)
- Das Konzept des „KI-Eduhacking“ entwickelt und in über 50 Workshops erprobt
- Monatlich Edumail mit praktischen Impulsen an tausende Leser*innen verschickt
- Den #edubuchklub als kollaboratives Lernexperiment gestartet
- Zahlreiche Vorträge und Workshops bundesweit durchgeführt
Diese drei Beiträge haben besonders viele Menschen erreicht:
„KI als Lerngegenstand: Zeit für eine kalte Dusche!“
Warum wir KI nicht einfach in bestehende Bildungsstrukturen einbinden sollten
https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:7165625397584347137/„Fünf konstruktive Gründe, sich mit KI zu beschäftigen“
Wie wir von einer Angst- zu einer Gestaltungsperspektive kommen können
https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:7266705801132617728/„KI-Einstiegsworkshop für Schulen“
Ein erprobtes Konzept zum Weiternutzen
https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:7258165971138285568/Besonders gefreut hat mich:
- Wie viele Kolleg*innen die geteilten Materialien aufgegriffen und weiterentwickelt haben
- Die vielen guten Gespräche über eine veränderte Lernkultur
- Das erfolgreiche Experimentieren mit neuen Formaten wie dem „Wurfmikrofon-Countdown“
Für 2025 plane ich:
- Mehr Experimente zu kollaborativem Lernen
- Weitere offene Materialien zum Weiternutzen
- Noch mehr Fokus auf grundlegende Veränderung der Lernkultur
Allen, die 2024 mit mir gemeinsam an guter Bildung gearbeitet haben: Danke für den Austausch und die Zusammenarbeit. Lasst uns 2025 weiter gemeinsam experimentieren und voneinander lernen! 🙂
Und das hier ist die erstellte Karte:
Schritt 2: Ich beobachte mich selbst beim Lesen der Zusammenfassung und beim Anschauen der Karte. Ich versuche im Folgenden wiederzugeben, was sich in meinem Kopf abspielt.
Die ersten Gedanken sind sehr bestätigend und erfreut:
- Ja, das stimmt. KI war wirklich sehr dominierend.
- Sehr cool, dass so klar herauskommt, dass es mir um die Veränderung der Lernkultur geht.
- Super, dass auf der Karte so prominent die Herausforderung der sozialen Gerechtigkeit draufsteht.
- Insgesamt liest sich das echt gut, Könnte ich fast so posten.
Ich lese den Text noch einmal und werde dabei skeptischer:
- Ist das Zufall oder war einfach das Ende der zur Verfügung gestellten Tokens erreicht, dass der Fokus der Zusammenfassung auf dem liegt, was ich in den letzten Wochen gemacht habe?
- Vieles davon ist wirklich Quatsch. Ich habe echt viele Methoden entwickelt, aber gerade das analoge Mentimeter war ja eher eine Vortragsauflockerung und nicht wirklich Lerngestaltung.
- Die Idee mit dem Wurfmikrofon war ja nur sehr nebensächlich. Das hätte ich nicht so prominent erwähnt.
- …
Ich überlege, woran es liegt, dass ich das Ergebnis zunächst dennoch ganz cool fand. Das könnten Gründe sein:
- Der automatisierte Rückblick ist eine zufällige Spiegelung meiner Aktivitäten, vermutlich mit Fokus auf die letzten Wochen. Beim ersten Lesen denke ich daher: Oh, das klingt cool!
- Ein Zitat aus meinen Beiträgen (wahrscheinlich ebenfalls aus jüngerer Zeit) steht prominent auf der generierten Karte. Da ich dieses Zitat selbst geschrieben habe, stimme ich natürlich zu und freue mich darüber.
- Generative Sprachmodelle schreiben professionell, wodurch der Eindruck entsteht, eine echte Reflexion vor sich zu haben. Zwar gibt es teils merkwürdige Gewichtungen, aber sie erscheinen korrigierbar.
- Das Format hat Meme-Charakter: Wenn viele so etwas teilen, möchte ich auch mitmachen – und die verschiedenen Varianten sind spannend.
Vor diesem Hintergrund beschließe ich, mich mal selbst an solch eine Zusammenfassung zu machen. Dabei muss ich ja gar nicht auf KI verzichten, aber vielleicht finde ich einen Weg, mit dem das Ergebnis sich mehr nach mir anfühlt.
Schritt 3: Ich öffne zunächst einmal meine Beitragsliste auf LinkedIn und scrolle runter bis in den Januar 2024. Mir fällt direkt ein Posting zu meinem Workshop bei schlau Hannover ins Auge. Da ging es um Methodenentwicklung zu geschlechtlicher Vielfalt. Das hatte ich fast schon wieder vergessen. Als nächstes stoße ich auf einen Text zu ‚kritischem Denken‘. Den hatte ich auch zum Jahresbeginn geschrieben. Und ich sehe das Tool zufallsablenkung.de, das mir auch ganz aus dem Blick gegangen war … Diese ersten Eindrücke machen für mich schon deutlich: Da war sehr viel mehr in 2024 als coauthor.studio berücksichtigt hat!
Schritt 4: Ich will ja nicht einfach alle meine Posts von 2024 aufführen, sondern für mich – und vielleicht auch zum Teilen mit anderen – einen zusammenfassenden Rückblick erstellen. Darum nehme ich mir Zettel und Stift, scrolle durch meine Beiträge und notiere immer ein Stichwort, wenn mir etwas besonders ins Auge fällt. Schnell fange ich an, dass ein bisschen zu strukturieren: nach Themen, nach wichtigen Sachen, nach sehr coolen Sachen, nach Quatsch … Als ich ganz oben in meinem Feed im Dezember angekommen bin, habe ich einen vollgeschriebenen Zettel, den ich mir nochmals ansehe und ein bisschen streiche und schiebe. Mit den so entstandenen Notizen kann wahrscheinlich nur ich etwas anfange. Ich dokumentiere den Zettel der Vollständigkeit halber trotzdem:
Schritt 5: Durch meine bisherigen Experimente habe ich bereits gelernt: Eine Sprachnachricht an mich selbst ist ein sehr guter Weg, um erste Notizen und Entwürfe weiter bearbeitbar zu machen! Also nehme ich mir mein Smartphone und spreche meine Notizen ein. Das geht relativ schnell, weil ich mich grob an meiner Notizen-Sortierung orientieren kann, aber ich ansonsten sehr spontan spreche. Das Ergebnis transkribiere ich.
Schritt 6: Ich streiche den Einstieg, in dem ich erkläre, was ich machen will, aus dem Transkript. Den Rest gebe ich mit dem folgenden Prompt in ein KI-Sprachmodell ein:
Ich habe gerade ein Audio mit wichtigen Themen, Inhalten und Erlebnissen usw. 2024 eingesprochen. Das hier ist das Transkript: ... Bitte erstelle mir daraus eine Zusammenfassung. Wichtig ist mir Vollständigkeit, Übersichtlichkeit und Prägnanz. Bitte formuliere nicht aus, sondern gestalte zu den Überschriften listenartige Einträge.
Schritt 7: Ich erhalte eine sehr grobe Liste, die sich natürlich ziemlich holprig liest:
Übergreifende Themen
Gestaltung von Lernen: Fokus auf methodische Entwicklung und Reflexion.
Vernetzung in Communities:
OR Camp Community
Edunautica
Vernetzung über das Fediverse (Onlinevernetzung, Anregungen und Reflexionen).
Reflexion und Transparenz:
Beiträge über Fehlversuche (Fails).
Einblicke ins Lerntagebuch.
Wichtige Themen und Inhalte
Zentrale Themen:
Künstliche Intelligenz (dominierendes Thema).
Weitere Themen:
Technische Tools (HP, Moodle).
Lernkultur, TikTok, Vernetzung über Social Media.
Veränderungskompetenz und transformatives Lernen.
Pädagogische Haltung und Selbstlernkompetenz.
Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Demokratisierung und Schulentwicklung.
Besondere Projekte und Erlebnisse
Workshops und Veranstaltungen:
Methodenworkshop zu geschlechtlicher Vielfalt (Hannover).
Spontane Intervention bei "OER im Blick" (Werbeblock für das Fediverse).
Erinnerungswürdige Aktivitäten:
Theater-Performance zu Empfehlungen (Re:publica).
Vortrag zu Veränderungskompetenz (University Future Festival).
Teilnahme am Datenspuren Festival (Dresden, Hacking-Kultur).
Community-Beratschlagung bei OER Camps.
Strategiediskussionen zu KI (HAWK Hildesheim).
Lern- und Arbeitsformate
Erstellung von Selbstlerninhalten: Zunahme im Vergleich zu Vorjahren.
Impulse und Vorträge: Vermehrte Anfragen und Umsetzung.
Vielfältige Zielgruppen:
Schulen: Mehr berufliche Schulen.
Hochschulen: Stärkerer Fokus als in Vorjahren.
Weitere Einrichtungen:
Volkshochschulen
Arbeiter-Samariter-Bund
Netzwerk Medienbildung in Bibliotheken.
Fazit
Persönliche Entwicklung: Lernreiches und reflektierendes Jahr.
Ausblick: Vorfreude auf 2025.
Schritt 8: Ich kopiere mir dies Liste in ein Schreibprogramm und mache mich selbst an die Arbeit. Meinen Text lasse ich anschließend mit DeeplWrite auf Rechtschreibfehler überprüfen.
Ergebnis
Im Ergebnis ist dieser Text entstanden:
2024 war für mich ein spannendes Jahr: viel neu gelernt, viel gemacht, viel erlebt und viel gestaltet!
- Im Fokus stand für mich die Herausforderung, gutes Lernen zu gestalten. Dazu habe ich zahlreiche Workshops und Lernangebote konzipiert und durchgeführt.
- Ich habe viel über die Möglichkeiten von (Online-)Vernetzung nachgedacht und mich insbesondere bei der edunautika und in der OERcamp-Community weiter vernetzt.
- Ich habe sehr viel über mein eigenes Lehren und Lernen reflektiert, insbesondere über mein Lerntagebuch. Ich fand es gut, auch Fails zu teilen.
Wichtige Themen und Inhalte:
Künstliche Intelligenz war das dominierende Thema, aber auch technische Tools (H5P, Moodle), Social Media, Lern- und Prüfungskultur, Veränderungskompetenz und transformatives Lernen, pädagogische Haltung, Selbstlernkompetenz, Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Demokratisierung und Schulentwicklung.
Sehr cool fand ich …
- die Theater-Performance bei der re:publica zu den Handlungsempfehlungen „Offene KI für alle“.
- den Vortrag zu Veränderungskompetenz beim University Future Festival, bei dem ich vorher ziemlich aufgeregt war.
- meine Teilnahme am Datenspuren Festival (so schönes Eintauchen in nerdige Hacking-Kultur).
- die beiden Community-Beratschlagungen bei den OERcamps, die ich mitgestalten durfte.
- die konzipierten Strategiediskussionen zu KI an der HAWK Hildesheim. Es war so eine großartige Gruppe!
Was fällt mir ansonsten auf?
- Ich habe mehr Impulse und Vorträge gehalten.
- Ich habe weiterhin sehr viel offen geteilt und dabei mehr Micro-Content gestaltet.
- Meine Zielgruppen haben sich verändert: Ich war mehr an beruflichen Schulen und mehr an Hochschulen. Vor allem aber war es immer sehr vielfältig – zum Beispiel durch Einladungen zum Arbeiter-Samariter-Bund, zu den Volkshochschulen, zum Netzwerk Medienbildung in Bibliotheken und vielen mehr.
Fazit: ein sehr schönes Jahr! 🙂
Reflexion
Für meine eigene Reflexion habe ich – dank KI-Unterstützung – ca. 30 Minuten gebraucht. Das ist natürlich mehr Aufwand, als die Erstellung mit einem Klick via CoAuthor oder ein anderes Tool. Zugleich steht aber ganz viel auf der Haben-Seite:
- Ich bin wirklich noch einmal in mein zurückliegendes Jahr eingetaucht.
- Ich habe ganz viele Aspekte wieder entdeckt und mich neu daran erinnert.
- Mir ist bewusster geworden, wo mein Fokus liegt (= Gestaltung von gutem Lernen).
- Ich nehme mit, dass KI zwar inhaltlich dominierend war, aber es erfreulicherweise auch ganz viele andere Themen gab
- Das Ergebnis unterscheidet sich tatsächlich gravierend von der ganz automatisch generierten Version.
Damit hat das heutige Experiment mir vor allem eine potentielle Gefahr von generativen ‚Knopfdruck‘-KI-Tools vor Augen geführt: Man denkt, dass man reflektiert, aber faktisch lässt man sich nur einfach einmal kurz per Zufallsauswahl spiegeln. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es einfach eine nette Spielerei wäre. Ich frage mich aber, für wie viele Menschen diese schnelle Möglichkeit mit recht professionellem und teilbaren Ergebnis dazu führt, dass man sich sagt: ‚Besser bekomme ich das ohnehin nicht hin‘ bzw. ‚Jahresrückblick 2024 kann ich jetzt abhaken‘. Gäbe es die ‚Knopfdruck‘-Option nicht, würden wahrscheinlich viel mehr Menschen die Selbermachen-Variante wählen.
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