Netzkultur-Kommunikation am Beispiel von TikTok

In den letzten Wochen habe ich mir unter dem Blickwinkel ‘Kommunikation in einer Kultur der Digitalität’ die Plattform TikTok näher angesehen und aus einer pädagogischen Perspektive reflektiert. Ich habe dazu auch einige Selbstexperimente auf TikTok gemacht, aber vor allem viel beobachtet. Meine vorläufigen Erkenntnisse möchte ich in diesem Blogbeitrag teilen. Dabei geht es mir insbesondere um die Frage, welche Kompetenzen in einer maßgeblich durch Netzkultur-Kommunikation im Stil von TikTok geprägten Gesellschaft grundlegend sind und was das für zeitgemäße Pädagogik bedeutet.

Was ist TikTok?

TikTok ist eine Social Media Plattform mit miserablen Datenschutz-Bedingungen und immer wieder aufgedeckten Zensur-Fällen. Zugleich ist TikTok die aktuell wahrscheinlich kreativste und vielfältigste Social Media Plattform, was die Möglichkeiten und die Praxis der Kommunikation betrifft. Am besten macht man sich davon selbst ein Bild. Alle Clips können auch ohne Registrierung oder App-Download auf TikTok.com angesehen werden.

Wodurch ist Kommunikation auf TikTok gekennzeichnet?

Um die Kommunikation auf TikTok zu charakterisieren, sind aus meiner Sicht 5 Aspekte grundlegend: Fokus, Multimedialität, Individualität, Remix und Mash-Up.

1. Fokus

Inhalte auf TikTok sind kurze Clips mit maximal 60 Sekunden Dauer. Auf diese Weise wird sehr prägnant und komprimiert kommuniziert. Ähnlich wie auf Twitter in schriftlicher Form durch die Zeichenbegrenzung, so muss man auf TikTok durch die zeitliche Begrenzung sehr genau überlegen, was man wie in einen Clip packen will.

2. Multimedialität

Ein TikTok ist nicht nur eine einfache Videoaufzeichnung, sondern besteht meist aus mehreren zusammengesetzten Videoschnipseln, die mit unterschiedlichen Übergängen verbunden und mit Musik, Filter-Effekten, Text und Text-Elementen wie Sticker und Emojis angereichert werden.

3. Individualität

TikTok verfügt über sehr viele und sehr niederschwellige Möglichkeiten, sich selbst sehr unterschiedlich bzw. sehr anders als im physischen Leben darzustellen. Auf diese Weise lässt sich leicht mit unterschiedlichen Rollen experimentieren. Zugleich können auch bestimmte, individuelle Merkmale sehr stark und bewusst betont werden.

4. Remix

Remix bei TikTok funktioniert oft ähnlich wie bei Bild-Memes, die man aus anderen sozialen Netzwerken kennt. Anstelle eines Bildes wird bei TikTok ein bestimmter Filter oder ein bestimmtes Lied wieder und wieder remixt und auf diese Weise in einen neuen Kontext gestellt. Aktuell finden sich zum Beispiel zahlreiche TikToks zu ‘BongoChaChaCha’, wo zunächst eine unzufriedenstellende/ irritierende Situation und anschließend ein positiver/ überraschender Umgang damit dargestellt wird. Die Kommunikation erfolgt dann nicht nur über den einzelnen Clip, sondern – mindestens für Menschen, die dieses Meme kennen – auch über diesen breiteren Kontext.

5. Mash-Up

Eng mit dem Remix verbunden sind die Möglichkeiten für Mash-Ups. Hier werden ganze Tonspuren oder Videos in einen anderen Kontext gebracht und dadurch verfremdet. Zum Beispiel gibt es eine riesige Anzahl von Clips mit Lippensynchronisierung, bei denen jemand zum Beispiel zu einer Rede von Donald Trump die Lippen passend bewegt und es durch diese eigene Darstellung zum Beispiel gelingt, inhaltlichen Widerspruch deutlich zu machen. Darüber hinaus kann auch auf ein TikTok einer anderen Person z.B. in Form eines ‘Duetts’ reagiert werden. Dabei wird neben dem bereits existierenden TikTok ein weiterer Clip aufgezeichnet. Auf diese Weise wird ein Clip quasi synchron kommentiert.

Wo liegen Herausforderungen für zeitgemäße Pädagogik?

Über TikTok im pädagogischen Kontext habe ich bisher vor allem aus drei Perspektiven gehört und gelesen:

  1. In Bezug auf die Herausforderung, zu Datenschutzfragen zu sensibilisieren und Lernende bei der Kompetenzentwicklung zu digitaler Souveränität zu unterstützen.
  2. Als neue Möglichkeit für kreative Gestaltung bei der Auseinandersetzung mit Lerninhalten.
  3. In Bezug auf die Frage einer alternativen Gestaltung von Lerninhalten, die besser den Rezeptionsmöglichkeiten von ‘Digital Natives’ entsprechen.

Während diese Fragen sicherlich alle ihre Berechtigung haben, möchte ich mir TikTok aus pädagogischer Perspektive hier grundlegender und ‘meta-mäßiger’ nähern. Also: Wenn TikTok ein Vorgeschmack zu dem ist, wie Kommunikation in der Kultur einer weiter vorangeschrittenen Digitalität zukünftig mehr und mehr geprägt sein wird, was bedeutet das dann für zeitgemäße Pädagogik? Oder anders ausgedrückt: Was müssen Lernende können, um sich aktiv, selbstbestimmt, kritisch und kreativ an der Gestaltung einer Gesellschaft zu beteiligen, in der die Kommunikation immer mehr von TikTok-artigen Plattformen geprägt ist? Ich möchte hierzu ohne Anspruch auf Vollständigkeit 5 Aspekte nennen, die ich jeweils als Fragen für zeitgemäße Pädagogik formuliere.

1. Zuhören und Verstehen

Bei meinem Einstieg auf TikTok war ich unter anderem sehr erstaunt darüber, dass es offensichtlich Inhalte gibt, die für Millionen Menschen relevant sind – von denen ich aber über meine bisherigen Kommunikationskanäle und auch über traditionelle Medien noch nie etwas mitbekommen hatte. Deutlich wurde mir daran, dass die Kommunikation der Netzkultur immer auch eine Kommunikation von vielen unterschiedlichen ‘Filterblasen-Communities’ ist – und dass diese Entwicklung sich zukünftig wohl noch weiter verstärken wird. Was aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive damit immer wichtiger wird, ist die Fähigkeit zum gegenseitigen Wahrnehmen, Zuhören und Verstehen – auch über unterschiedliche Filterblasen hinweg.

Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann zeitgemäße Pädagogik bei der Entwicklung von solch einer Wahrnehmungs-, Verstehens- und Kommunikationskompetenz unterstützen? Ich denke, dass hierzu z.B. die bewusste Konfrontation mit Multiperspektivität und Komplexität in Lernprozessen ein Schlüssel sein kann.

2. ‘Hinter den Kulissen’

Ein weiterer Punkt der mich bei meinem Einstieg auf TikTok sehr erstaunte, war die Niederschwelligkeit und Einfachheit mit der Inhalte gestaltet werden können. Das beste Beispiel hierfür sind die Greenscreen-Filter: Mit Klick auf einen Button kann ich mich vor einen anderen Hintergrund stellen oder auch ein anderes Video hinter mir erscheinen lassen. Diese Greenscreen-Technik wird in der Medienpädagogik schon länger eingesetzt – allerdings hier häufig noch im Wortsinne: Lernende stellen sich ganz real vor eine ‘grüne Wand’, können dadurch im Foto ausgeschnitten werden und sich dann einen anderen Hintergrund auswählen. Diese – aus TikTok-Perspektive sehr umständliche und fast schon altertümlich anmutende – Gestaltungsweise hat den großen Vorteil, dass aktives Medienhandeln mit der Begreifbarmachung von Medien verbunden wird. Lernende verstehen und erleben ganz praktisch, wie Mediengestaltung funktioniert.

Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann zeitgemäße Pädagogik angesichts einer Technik, die immer selbstverständlicher, niederschwelliger und damit auch versteckter wird, dennoch einen Blick ‘hinter die Kulissen’ ermöglichen und auf diese Weise ein Bewusstsein zur Gestaltungsmöglichkeit von Technik schaffen?

3. Kommerzialisierung der Netzkultur

Ich habe oben beschrieben, dass Netzkultur durch Remix geprägt ist. Ob sich etwas und wenn ja wie sich etwas zu Memes entwickelt, ist dabei in der Regel nicht vorhersehbar. In Bezug auf TikTok gilt diese fehlende Vorhersehbarkeit nicht mehr unbedingt. Stattdessen entsteht eine ‘Remix-Welle’ häufig mit der Freischaltung eines neuen Filters, den dann alle ausprobieren und der daraufhin oft in den Trends landet. Alternativ sind es Promis, die etwas vormachen, was dann millionenfach kopiert und remixt wird. Als zusätzliche Herausforderung kommt noch dazu, dass oft nicht mehr unbedingt ersichtlich ist, ob ein Trend zentral angestoßen oder kollaborativ von unten entsteht – und was das für die eigene kreative Ausdrucksform bedeutet.

Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann zeitgemäße Pädagogik ein Bewusstsein dafür schaffen, welche Interessen sich hinter Plattform-Kommunikation verbergen? Wie können – gerade ausgehend von Freude und Spaß an kreativem Remix – Perspektiven für eine selbstbestimmte Netzkultur entwickelt werden?

4. Selbstwahrnehmung und digitales Ich

In allen sozialen Netzwerken (und auch im physischen Raum) kann ich unterschiedliche Rollen spielen. In einem sozialen Netzwerk wie TikTok sind die Möglichkeiten zur Selbstveränderung aber deutlich größer als anderswo. Beispielhaft lässt sich das beim Verändern des eigenen Aussehens zeigen: Ich kann nicht nur einen Filter über meine Aufnahme legen oder einen einfachen Touch-Up-Effekt wählen. Darüber hinaus kann ich über Schieberegler einstellen, wie geweißt meine Zähne, wie geglättet meine Haut und wie stark und in welcher Farbe Lippenstift und weiteres Make-Up aufgetragen werden soll. All das ist nur eine Sache von Sekunden. Menschen, die auf TikTok kommunizieren stehen somit vor völlig neuen Herausforderungen der Selbstreflexion der eigenen Person. Das beginnt mit der Frage, wie ich mich selbst präsentieren will über die Frage, wie ich von anderen wohl wahrgenommen werde bis hin zur Frage, ob ich mich bewusst verändern sollte, damit der TikTok-Algorithmus meinen Clip ‘ausspielt’.

Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann zeitgemäße Pädagogik Menschen stärken und dahingehend unterstützen, dass sie – gerade wenn sie vor der klassischen Entwicklungsaufgabe der Selbstfindung im Jugendalter stehen – selbstbestimmt ihren eigenen Weg gehen ohne sich – zum Teil vielleicht auch unbewusst – in eine vermeintliche Norm pressen zu lassen?

5. Algorithmisches Lesen

TikTok präsentiert mir auf der Startseite zwei unterschiedliche Ansichten: einmal eine Sammlung der Clips von allen Menschen, denen ich folge. Zum anderen eine ‘Für Dich-Ansicht’ mit durch den TikTok-Algorithmus generierten Vorschlägen. Über die Einstellungen kann ich diese Anzeige zwar beeinflussen (z.B. durch Sprachauswahl und die Auswahl von Interessen). Maßgeblich wird er aber durch meine Art und Weise der Interaktion mit den mir angezeigten Clips generiert. (Auch wenn ich z.B. unter Interessen nur ‘Lernen’ gewählt habe, aber trotzdem immer wieder bei ‘Food Life Hacks’ hängen bleibe, wird der TikTok Algorithmus mir weitere kreative TikTok-‘Rezept’-Vorschläge ausspielen …). Solch ein Algorithmus kann sehr viele Vorteile haben, die man zum Beispiel auch bei Nutzung einer personalisierten Suche kennt: Weil die Suchmaschine mich kennt (bzw. ich die Suchmaschine trainiert habe, mich zu kennen), finde ich deutlich schneller, was ich suche (= Filterblase als Feature). Die Schattenseite davon ist natürlich, ob irgendwann nicht doch der Algorithmus mich trainiert – anstatt ich den Algorithmus (= Filterblase als Bug)

Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann in zeitgemäßer Pädagogik auf individueller Ebene ein Bewusstsein für Algorithmen und die Möglichkeiten für einen bewussten Einsatz von Algorithmen schaffen? Wie kann ich Algorithmus-Training als Teil von Lernen verstehen? Und wie kann daraus ausgehend zugleich die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Hoheit über Algorithmen reflektiert und angegangen werden?

Ist all das nicht eine Überforderung für zeitgemäße Pädagogik?

Die oben dargestellten Fragen stellen sich aus meiner Sicht nicht nur in der Schule, sondern ebenso auch in beruflicher Bildung, Hochschule und Erwachsenenbildung. Denn wir alle sind damit unser ganzes Leben lang konfrontiert. Ist es aber nicht eine Überforderung all diese Fragen in zeitgemäßer Pädagogik zu berücksichtigen und Kompetenzentwicklung dahingehend zu unterstützen? Ich finde: Das kommt auf die Perspektive an, was zeitgemäße Bildung leisten kann und soll. Wenn bei Bildung immer noch an erster Stelle steht, dass Lernenden eine umfangreiche Liste an ‘Lernstoff’ vermittelt wird, dann sind diese weiteren Fragen natürlich überfordernd und störend. Wenn dagegen an erster Stelle das Ziel steht, dass Lernende gesellschaftliche Handlungsfähigkeit erwerben, um sich mündig in gesellschaftliche Prozesse einbringen und diese auch auf einer strukturellen Ebene gestalten und hinterfragen zu können, dann ist meine Darstellung eigentlich nicht mehr als eine Konkretisierung. Sie besagt, dass in einer digitalisierten Gesellschaft das Ziel der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit immer auch netzpolitisches Bewusstsein und digitale Handlungsfähigkeit umfassen muss. Was das konkret bedeuten kann, habe ich am Beispiel von TikTok gezeigt.

Fazit: Selbst erkunden!

Ich bin mit meinem eigenen Nachdenken zu diesem Thema noch am Anfang. Ich teile meine ersten Gedanken, weil ich an Austausch und gemeinsamen Weiterdenken interessiert bin. Wichtig scheint mir in jedem Fall, dass eigenes Erkunden und Ausprobieren grundlegend ist, um überhaupt erst einmal zu verstehen und reflektieren zu können, vor welchen Herausforderungen zeitgemäße Pädagogik steht.


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