Gestern war ich beim Medienpädagogik-Praxiscamp in Würzburg. Dort habe ich im Rahmen des Barcamps eine Session angeboten, in der aktuelle Herausforderungen in der Medienpädagogik strategisch reflektiert und konkrete Ideen entwickelt werden konnten. Ich habe die Session bewusst als eine Art ‚Prototyp‘ angeboten und ausprobiert, weil ich denke, dass auch in anderen Kontexten oft der Bedarf besteht, sich in maximal einer Stunde auf diese Weise gemeinsam zu orientieren. Vor diesem Hintergrund teile ich das Konzept der Session hier zur Weiternutzung und dokumentiere zugleich unsere Ergebnisse.
Hintergrund: ein fünffach offenes Konzept
Ich mag den Ansatz der Session sehr gerne, weil er gleich fünffach Offenheit realisiert:
- Es gibt eine Offenheit in Zeit, Raum und Zielgruppe, indem der Session eine ko-kreative, flipped-Vorbereitung vorgeschaltet wird, an der sich auch Menschen beteiligen können, die nicht an der eigentlichen Session teilnehmen werden.
- Es gibt Offenheit bei der Nutzung neuer Technologien, indem generative KI-Sprachmodelle sinnvoll in Vor- und Nachbereitung eingebunden werden.
- Es gibt Offenheit bei der Durchführung, weil die methodische Gestaltung vorsieht, dass alle sich einbringen und beteiligen können. Der Austausch steht im Fokus.
- Es gibt Offenheit, weil gemeinsam ein Ergebnis erarbeitet wird (= eine Liste mit strategischen Überlegungen und eine Liste mit Ideen), welches anschließend offen geteilt und von allen weiter genutzt werden kann.
- Es gibt Offenheit auf der Ebene des Konzepts, weil dieses aufbereitet zur Verfügung steht, sich einfach auf andere Kontexte anpassen und weiter nutzen lässt.
Rahmen: relativ kurz und skalierbar
Wie oben bereits dargestellt, sieht der gewählte Ansatz einen vorbereitenden und nachbereitenden Teil vor. Diese können zeitlich flexibel gestaltet werden. Hinzu kommt die eigentliche Session. Bei uns hatten wir dafür die barcamp-typischen 45 Minuten zur Verfügung. Etwas entspannter wäre es, wenn man sich eine Stunde Zeit nehmen könnte. Natürlich funktioniert das Konzept auch außerhalb von Barcamps.
Um eine ausreichende Vielfalt an Perspektiven zu haben, ist es gut, wenn sich mindestens neun Menschen beteiligen. Nach oben ist die Teilnehmendenzahl skalierbar. Man muss eben schauen, dass es in dem zur Verfügung stehenden Raum genug Platz gibt, damit sich alle bewegen und in unterschiedlichen Konstellationen austauschen können.
Sieben Phasen: sammeln, eintauchen, erweitern, beratschlagen, entwickeln, abschließen und teilen
Das Konzept lässt sich in sieben Phasen unterteilen, wobei Phase 1 und Phase 7 zeitlich flexibel gestaltet sind und Phase 2 bis Phase 6 im Rahmen der eigentlichen Session stattfinden.
Phase 1: Sammeln mit einer ko-kreativen flipped Vorbereitung
Im Vorfeld habe ich dazu eingeladen, dass interessierte Menschen ihre Sichtweise auf das gewählte Thema teilen und einbringen können. Bei uns ging es wie gesagt um Medienpädagogik. Meine Frage, die ich bei Mastodon und auf LinkedIn teilte, lautete somit:
Was siehst du aktuell als die größte Herausforderung in der Medienpädagogik an?
Gerne in einem Satz! 🙏
In Vorbereitung auf die Session kopierte ich mir alle Antworten und entwickelte daraus mithilfe eines generativen KI-Sprachmodells eine Liste mit insgesamt 22 ‚Wie gelingt es …?‘-Fragen.
Hier ist die so entstandene Liste:
- Wie gelingt es, in einer sich rasant verändernden digitalen Welt zeitgemäße, kritische Medienkompetenz zu vermitteln, die sowohl den Risiken als auch den Chancen der digitalen Medien gerecht wird?
- Wie gelingt es, pädagogisch tätige Personen auf ein einheitliches Mindestniveau in der Medienkompetenz zu bringen, um Konflikte und Zersplitterung in den Kollegien zu vermeiden?
- Wie gelingt es, Medienpädagogik sinnvoll in der Prüfungskultur widerzuspiegeln?
- Wie gelingt es, Medienpädagogik klar von Informatik und Hardware-Fragen zu trennen?
- Wie gelingt es, nachhaltige Finanzierungsmodelle zu etablieren und Projekteritis insbesondere im gemeinnützigen Bereich zu vermeiden?
- Wie gelingt es, digitale Fürsorge im medienpädagogischen Kontext zu fördern?
- Wie gelingt es, digitale Medien didaktisch sinnvoll in fachspezifische und überfachliche Kontexte einzubinden?
- Wie gelingt es, das volle didaktische Potenzial digitaler Medien für das Lernen zu entdecken und zu nutzen?
- Wie gelingt es, im dynamischen Medienfeld Herausforderungen nachhaltig anzugehen, ohne von kurzfristigen Entwicklungen überrollt zu werden?
- Wie gelingt es, Medienpädagogik von technologischen Neuerungen zu entkoppeln und den Fokus auf Inhalte zu setzen?
- Wie gelingt es, kritisch zu reflektieren, wann digitale Lösungen sinnvoll sind und wann nicht?
- Wie gelingt es, systembedingte und fachorientierte Denkschranken bei pädagogisch tätigen Personen (insbesondere an Der Schule) zu überwinden?
- Wie gelingt es, Klarheit darüber zu schaffen, was Medienpädagogik ist und wer sie verantwortet?
- Wie gelingt es, Eltern und andere Personen in Verantwortung für Kinder und Jugendliche von einer mündigen und kritischen Mediennutzung zu überzeugen?
- Wie gelingt es, eine Nutzung digitaler Medien zu fördern, die auf Verständnis und nicht nur auf Anwendung beruht?
- Wie gelingt es, medienpädagogisch nicht als veraltet wahrgenommen zu werden, obwohl sich Plattformen und Tools ständig verändern?
- Wie gelingt es, zu vermitteln, dass Medienpädagogik auf wissenschaftlich fundiertem Handeln basiert und nicht nur auf persönlichem Gefühl?
- Wie gelingt es, die Uferlosigkeit und Unübersichtlichkeit in der Medienwelt zu überwinden, um Abwehrhaltungen und Resignation zu vermeiden?
- Wie gelingt es, Medienbildung als gemeinsame Aufgabe aller pädagogisch und erzieherisch verantwortlichen Personen zu etablieren, statt sie immer an andere zu delegieren?
- Wie gelingt es, Entscheidungsträger*innen, die in der „Gutenbergwelt“ leben und das Internet nicht aus einer aktiven Mitgestaltungsperspektive kennen für gute Medienpädagogik zu sensibilisieren?
- Wie gelingt es, als pädagogisch tätige Person in Sachen KI und digitaler Entwicklungen halbwegs auf dem Laufenden zu bleiben?
- Wie gelingt es, Erwachsenen zu verdeutlichen, dass das Internet für fast alle noch Neuland ist und Klick-Wisch-Kompetenz nicht gleich Medienkompetenz ist?
Für die Session formatierte ich die Fragen und druckte sie groß auf Din-A4-Zettel aus. Damit war ich für die Session vorbereitet.
Phase 2: Eintauchen mit einem Speed-Dating
Bei der Session hatte ich den Raum zu Beginn so vorbereitet, dass sich immer zwei Stühle gegenüberstanden. Auf allen Stühlen lagen verdeckt die ausgedruckten Zettel mit den Wie gelingt es …?-Fragen.
Wir machten nun drei Runden mit einer Mischung aus Gallery Walk und Speed-Dating. Dazu bewegten sich die Menschen rund um die Stühle. Auf ein Signal hin suchten sie sich einen Platz, nahmen den Zettel und lasen die Herausforderung. Danach war drei Minuten Zeit, um sich mit der gegenüber sitzenden Person über die Herausforderung auszutauschen. Jede Person stellte kurz vor, was auf dem Zettel stand, und ergänzte, ob und warum das auch für sie selbst eine oder keine wichtige Herausforderung ist.
Ich mag solch einen Einstieg sehr gerne, weil niemand herausgefordert ist, gleich von sich aus etwas einzubringen, sondern man sich erst einmal damit auseinandersetzen kann, was andere sich überlegt haben. So können sich auch Menschen beteiligen, die in dem Thema noch recht neu sind.
Phase 3: Erweitern mit der eigenen Herausforderung
Nachdem alle sich in den drei Runden einen ersten Überblick verschafft hatten, was aktuell mögliche Herausforderungen in der Medienpädagogik sein könnten, ging es darum, die eigene Perspektive einzubringen. Dazu machten wir ein knappes Silent Writing (= jede Person schreibt still für sich) mit einer dazu entwickelten Vorlage.
Die Teilnehmenden notierten erstens eine möglichst konkrete Herausforderung von ihnen als „Wie kann ich …?“-Frage. Wenn sie noch Zeit hatten, konnten sie außerdem festhalten, warum diese Herausforderung für sie relevant ist und welche Aspekte bei der Bewältigung aus ihrer Sicht wichtig erscheinen.
Dieses Silent Writing hat den Sinn, dass alle sich gut vorbereitet an der dann folgenden Beratschlagung beteiligen können.
Phase 4: Beratschlagen mit dem Troika-Consulting
Für diese Phase fanden sich die Teilnehmenden in 3er-Gruppen zusammen und gestalteten ein Troika-Consulting. Ausführlich habe ich diese Methode in einem anderen Blogbeitrag beschrieben. Kurz erklärt, gingen wir so vor, dass die erste Person ihre Herausforderung teilte, sich dann weg drehte und für sich Notizen machte, während die anderen beiden beratschlagten, was sie zur Bewältigung dieser Herausforderung raten würden. Danach waren nacheinander die nächsten beiden Personen an der Reihe.
Diese Phase der Session war also vor allem darauf ausgelegt, dass alle einen Raum fanden, in dem sie kollegial zu ihrer Herausforderung beraten wurden – und auch ihre eigenen Erfahrungen einbringen konnten, um anderen bei ihrer Herausforderung zu helfen.
Phase 5: Entwickeln mit der Sammlung von Ideen und ‚Aha‘-Momenten
Mit Phase 5 übertrugen wir die individuellen Erfahrungen auf eine stärkere Metaebene. Die 3er-Gruppen waren herausgefordert, erstens ‚Aha-Momente‘ festzuhalten (= was mir während der Beratschlagung klar geworden ist und was vielleicht insgesamt in der Medienpädagogik sinnvoll zu berücksichtigen wäre) und zweitens konkrete Ideen im Sinne eines „Wie wäre es …?“. Dazu hatte ich vorab Karten in zwei Farben verteilt, die dafür genutzt werden konnten. Auch für diese Aufgabe gab es ein enges Timeboxing von ca. sieben Minuten. Mindestens sollte jede Person am Ende eine Idee in der Hand haben. Wer wollte, konnte natürlich auch mehr Karten ausfüllen.
Phase 6: Abschließen mit einer Crowd-Bewertung
Die ‚Aha‘-Karten sammelte ich direkt ein. Mit den Ideen-Karten gestalteten wir eine Crowd-Bewertung. Dazu bewegten sich alle durch den Raum mit einer Ideenkarte in der Hand. Sobald man eine andere Person traf, wurden Karten getauscht und auf der Rückseite eine Bewertung zu der Idee der Karte eingetragen (von 1 – scheint mir wenig sinnvoll bis 10 – da wäre ich sofort dabei). Wer auf eine Karte eine fünfte Bewertung eintrug, rechnete danach alle Zahlen zusammen.
Mit den fertig bewerteten Karten stellten sich alle in eine Reihe auf, so dass auf der einen Seite der Reihe die geringen Bewertungen waren und dann bis zum anderen Ende immer höhere Bewertungen.
Diese Phase gestaltete ich vor allem aus gruppendynamischen Gründen, um am Ende der Session einen gemeinsamen Abschluss zu finden. Auf diese Weise konnte die Session nach dem Vorlesen der 10 best bewerteten Ideen mit Applaus für alle enden.
Phase 7: Teilen als OER nach Verschriftlichung und Aufbereitung
Nach der Session ging es dann noch um die Verschriftlichung und Aufbereitung der Ergebnisse. Dazu hatte ich alle Karten eingesammelt und tippte sie zunächst ab. (Für mich funktioniert das immer noch schneller, als abfotografieren und dann den Text extrahieren zu lassen.)
Anschließend nutzte ich wieder ein KI-Sprachmodell, um die sehr unterschiedlich geschriebenen Texte in ein einheitliches und gut weiternutzbares Format zu bringen. Ich teile unsere so aufbereiteten Ergebnisse hier als H5P-Inhalte zur einfachen Weiternutzung unter der Lizenz CC0.
Natürlich sind diese entwickelten Aha-Statements und Ideen vor dem Hintergrund der stattgefundenen Beratschlagungen zu sehen. Manches ist vielleicht ohne diesen Kontext nicht wirklich gut verständlich. Für mich stelle ich aber fest, dass ich solche entwickelten Listen sehr gerne als Denkanstoß nutze und darin auch immer wieder Anregungen finde, an denen ich weiter denken kann.
Fazit
Danke an alle, die im Vorfeld und in Würzburg an der Session beteiligt waren und das Konzept auf diese Weise mit mir ausprobiert haben. Wenn du es für dein Thema anpassen und weiter nutzen willst, wünsche ich dir dabei viel Freude und viel Erfolg!
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