Pädagogische Einordnung von KI-Nutzung: zwischen Kreation und Reproduktion

Ich mag Koordinatensysteme. Sie helfen mir oft dabei, ein Thema besser zu verstehen und für mich sinnvoller einordnen zu können. Vor dem Hintergrund meiner Beschäftigung mit KI und der Herausforderung von Kreativität bin ich nun zu einem Koordinatensystem gelangt, das auf der einen Achse die zeitliche Nutzung (asynchron/synchron) und auf der anderen Achse die Lernherausforderung (Kreation/Reproduktion) betrachtet.

Die vier Quadranten

Mit den beiden genannten Achsen entstehen vier Quadranten mit jeweils unterschiedlichen Herausforderungen und Möglichkeiten. Hier ist das Koordinatensystem im Überblick:

1. Reproduktion und asynchron: Lehrmaterialersteller*in

Im ersten Quadranten finden wir die wohl am häufigsten diskutierte und genutzte Form von KI im Bildungskontext: Lehrkräfte erstellen auf Basis eines vorgegebenen Lehrplans mithilfe von KI-Tools Lehrmaterialien für Lernende. Hierbei kann es sich zum Beispiel um Selbstüberprüfungen, differenzierte Texte zur Erschließung eines bestimmten Themas oder auch Aufgaben zur Leistungsüberprüfung und Bewertung handeln.

2. Reproduktion und synchron: Lerntutor*in

Während im ersten Quadranten in den meisten Fällen eine lehrende Person ein Material erstellt und dann einer lernenden Person zur Verfügung stellt, ist in diesem zweiten Quadranten die lernende Person direkt in Interaktion mit einem KI-Modell. Die KI nimmt dabei häufig die Rolle einer Lerntutor*in ein. Das bedeutet: Sie kann Inhalte auf Nachfrage erklären, zusammenfassen oder in eine andere Form transferieren. Ebenso können Lernende sich herausfordern lassen, von der KI auf ihrem Lernweg direkt begleitet zu werden. In diesem Fall stellt die KI Fragen, die die Lernenden beantworten und dann ein direktes Feedback (und weitere daraufhin passende Aufgaben) von der KI erhalten. Man spricht in diesem Fall dann auch von adaptiven Lehren bzw. Lernen.

3. Asynchron und Kreation: Impulsgeber*in

Im dritten Quadranten findet wie im ersten Quadranten keine direkte Interaktion der Lernenden mit dem KI-Modell statt, sondern dieses wird zur Generierung von Inhalten genutzt, die anschließend im Lernprozess zum Einsatz kommen. Der Unterschied ist nun, dass bei diesen Inhalten der Fokus nicht auf der Reproduktion liegt, sondern auf der Kreation, also dem Neu denken. Beispielsweise könnte mithilfe von KI eine Liste mit fiktiven Zitaten zu einem bestimmten Thema generiert werden. Die Lernenden setzen sich dann im Lernprozess mit diesen Zitaten auseinander, indem sie zum Beispiel reflektieren, inwieweit sie der Aussage zustimmen. Weitere Beispiele sind die Generierung von Personas, die in Design-Thinking-Prozessen verwendet werden, oder die Entwicklung von Zufallsgeneratoren. Auch in diesen Fällen verfolgen die Inhalte das Ziel, über die Exploration zu einer Denköffnung bei den Lernenden beizutragen.

4. Synchron und Kreation: Spielpartner*in

Im vierten Quadranten sind Lernende wiederum in direkter Interaktion mit einem KI-Modell. Dabei steht der Prozess im Fokus. Sie explorieren ein Thema durch aktive Beteiligung in einem Chat und können so neue Ideen entwickeln. Die Rolle der KI lässt sich hier gut als Spielpartner*in charakterisieren. Ein Beispiel wäre ein Ping-Pong-Spiel, bei dem immer abwechselnd die lernende Person und das KI-Modell eine Idee entwickeln – und so bei der lernenden Person divergierendes Denken angestoßen wird.

Weiternutzung als H5P-Inhalt

In diesem H5P-Inhalt habe ich die unterschiedlichen Quadranten kurz und prägnant zur Weiternutzung beschrieben.


Schlussfolgerungen

Mir hilft diese Sortierung auf mehreren Ebenen:

  1. Beim Sowohl-als-auch Denken: Aus einer „zeitgemäßen“ Bildungsperspektive bin ich immer mal wieder dazu verleitet, bestimmte Nutzungsformen von KI als grundsätzlich nicht-sinnvoll einzuordnen. Das Koordinatensystem kann stattdessen dabei helfen, den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten zu richten und auf diese Weise anstelle eines „Entweder-Oder“ zu mehr „Sowohl-als-auch“ zu kommen.
  2. Bei meiner Schwerpunktsetzung: Während ich durchaus finde, dass alle vier Quadranten an unterschiedlichen Stellen im Bildungssystem ihre Berechtigung haben können, scheint mir der Fokus in der aktuellen pädagogischen Diskussion vor allem auf der asynchronen und reproduzierenden Materialerstellung zu liegen, gefolgt von dem Anspruch oder der Hoffnung auf gute adaptive Lehrsysteme, d.h. einer synchronen und reproduzierenden Perspektive. Die Achse der Kreation wird dagegen aus meiner Sicht zu selten berücksichtigt oder in den Blick genommen, aber wäre gerade im Sinne von offenen Bildungspraktiken sehr wünschenswert. Aus meiner Sicht sollte – im Sinne der Schieberegler-Logik von Axel Krommer und anderen – gelten: So viel Reproduktion wie nötig, so viel Kreation wie möglich.
  3. Bei der Reflexion: Ich gestalte weiterhin zahlreiche Lernangebote über KI. Das vorgestellte Koordinatensystem kann auch in solchen Veranstaltungen zum Einsatz kommen. Ich denke, dass es „lernenden Lehrenden“ bei der Orientierung und Gestaltung von KI-Nutzung helfen kann – so wie es auch mir bei der Orientierung hilft.
Ein Koordinatensystem mit den Achsen synchron/ asynchron und kreation/ Reproduktion - und vier Rollen von KI: Materialersteller*in, Lerntutor*in, Spielpartner*in, Impulsgeber*in. Die beiden Quafraten bei Kreation sind gelb hinterlegt.
Beitragsbild: das Koodinatensystem. Mein ‚Nordstern‘ ist gelb hinterlegt.


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