Mehr Ambiguität wagen!

In diesem Blogbeitrag möchte ich mit dir eine Erkenntnis teilen, die mir in meinem pädagogischen Denken gerade sehr weiterhilft. Sie lautet, ganz kurz formuliert: Ambiguität ist in der Bildung nicht nur ein wichtiger Lerngegenstand (= in einer sogenannten VUCA-Gesellschaft braucht es mehr Ambiguitätstoleranz), sondern ihre Beachtung kann vor allem transformative Kraft zur Veränderung der Lernkultur entfalten! Ich habe diese Erkenntnis für mich entwickelt, als ich feststellte, dass Ambiguität in verschiedenen Bereichen von Bildung bislang zu wenig beachtet wird: beim Lernprozess selbst, bei der Gestaltung von Lernen und auch beim erwünschten „Output“ von Lernen, also dem Ziel von Bildungsprozessen. Zusammengebracht ergibt sich dann die genannte transformative Kraft, die sich zum Beispiel auch darauf erstrecken kann, wie man Technologie in der Bildung einordnet.

Das klingt für dich noch alles sehr verwirrend? Dann lies gerne weiter. Ich versuche, diese Erkenntnis und meine Überlegungen dazu Schritt für Schritt aufzudröseln. Ich beginne mit der wahrscheinlich offensichtlichsten Frage: Was ist überhaupt Ambiguität?

Ambiguität = Mehrdeutigkeit

Die einfachste Übersetzung von Ambiguität lautet wahrscheinlich Mehrdeutigkeit. Es gibt im Kontext von Ambiguität also keine eindeutigen, klaren oder auch abschließenden Antworten. Stattdessen sind wir mit der benannten Mehrdeutigkeit konfrontiert, was bis hin zu Widersprüchlichkeit reichen kann und sich auch beständig weiterentwickelt. Wir sind dann ambiguitätstolerant und können somit in und mit einer von Ambiguität geprägten Situation gestalten, wenn wir uns von einem „Entweder-Oder“-Denken wegbewegen und dafür mehr einem „Sowohl-als-Auch“-Denken zuwenden.

In der aktuellen KI-Debatte erleben wir wahrscheinlich gerade alle, wie sich solch eine Mehrdeutigkeit anfühlen und auswirken kann: KI wirkt in der Bildung beispielsweise zugleich erleichternd als auch herausfordernd – oder auch zugleich lernförderlich als auch lernverhindernd. Es wäre ein Missverständnis, wenn wir in dieser Situation einfach in die Mitte gehen und das als „richtige“ Antwort postulieren würden. In diesem Fall würde das zu den Aussagen führen: KI bringt uns eine mittlere Arbeitserleichterung und beinhaltet ein mittleres Lernpotenzial (oder analog in der pessimistischeren Variante: KI bringt uns eine mittlere Arbeitsherausforderung und eine mittlere Lernverhinderung). Genau solch eine Orientierung auf die Mitte hat aber nichts mit gelebter Ambiguität zu tun. Denn Ambiguität bedeutet ja gerade, dass beide Ausprägungen gelten – und nicht die Mitte von ihnen.

Ich mag für Ambiguität vor diesem Hintergrund auch den Vergleich mit Quanten-Phänomenen, die du vielleicht von Schrödingers Katze kennst: Wenn eine Katze in einem Karton mit einem Mechanismus sitzt, der sie entweder töten oder nicht töten kann, und wir den Mechanismus auslösen, dann müssen wir – bevor wir den Karton aufmachen – davon ausgehen, dass die Katze sowohl tot als auch lebendig ist. Solche Phänomene sind für unser Denken, das normalerweise an Binarität bzw. Eindeutigkeit gewöhnt ist, ziemlich herausfordernd. Genau deshalb ist Ambiguität so spannend für das Lernen.

Natürliches Lernen ist Lernen mit Ambiguität

Meine erste Erkenntnis zu Ambiguität und Lernen im aktuellen Kontext war, dass Lernen und Ambiguität eigentlich gar keine Widersprüche sind – zumindest dann nicht, wenn man von natürlichen Lernprozessen ausgeht. In diesem Fall lässt sich Lernen so beschreiben, dass Menschen im Laufe ihres Lebens und damit auch im Laufe ihres Lernens ihre Welterfahrungen immer präziser abbilden und in diesem Sinne feinere Differenzierungen und Verbindungen zu unterschiedlichen Erfahrungen herstellen. Dieser Prozess ist dann erstens selbst alles andere als eindeutig – sondern oft zufällig, vage und eben auch widersprüchlich bzw. mehrdeutig. Zweitens wird auch unsere innere Landkarte der Welt durch unser Lernen nicht immer eindeutiger, sondern ganz im Gegenteil immer mehrdeutiger. Denn die Welt ist eben gerade kein Puzzle, das wir uns Stück für Stück in unserem Kopf zusammenpuzzeln können – und am Ende stehen wir – tadaaa – vor der fertigen Lösung. Stattdessen entwickeln wir in einem mehrdeutigen und oft widersprüchlichen Prozess ein immer mehrdeutigeres und widersprüchlicheres Bild von der Welt. Natürlich gibt es in vielen Fällen auch „Aha-Momente“, bei denen uns etwas klar wird und wir etwas verstehen. Solche Erkenntnisse führen dann aber zugleich wieder zu sehr vielen neuen Fragen. Wir bleiben also zwangsläufig in einer Situation der Mehrdeutigkeit bzw. bewegen uns von einer Situation der Mehrdeutigkeit in die nächste.

Das mag wenig zufriedenstellend und nach einem Problem klingen. Aber das stimmt gar nicht! Denn wenn wir Ambiguität anerkennen, dann ist es eher eine große Freude, weil wir – bildlich gesprochen – den Krimi nicht ausgelesen haben, sondern uns immer tiefer in ein immer spannenderes Geheimnis hineindenken können.

Traditionelles Lehren verleugnet Ambiguität

Traditionelle Lehre – auch wenn in neueren Bildungsprogrammen immer häufiger der Ruf nach Ambiguitätstoleranz aufkommt – verleugnet häufig diesen Prozess und das Ergebnis von natürlichem Lernen. Bildung soll in sich nicht von Ambiguität geprägt sein, sondern bitteschön eindeutig. Das zeigt sich im formalen Bildungssystem insbesondere daran, dass wir Fakten sehr viel größere Bedeutung in der Lehre beimessen als Verbindungen. Die Fakten (auch wenn sie als ‚Kompetenzen‘ beschrieben werden) führen uns zu Curricula und Lehrpläne. Daraus entsteht Stoff, der gelehrt und gelernt werden soll. Dieser wandert dann in die Köpfe der Lernenden und kann von dort sehr eindeutig abgeprüft werden.
Im schlechtesten Fall eignen sich Lernende dann also isolierte Fakten an, die ohne Bedeutung bleiben und schnell wieder vergessen sind, weil sie nicht mit ihren übrigen Verbindungen aus natürlichen Lernprozessen verknüpft werden. Wenn wir in der Lehre dagegen mehr Ambiguität wagen würden, dann würden wir an den natürlichen Lernprozessen der Lernenden ansetzen, diese unterstützen und so die oftmals chaotischen und immer mehrdeutigen, vagen und individuellen Verbindungen höher gewichten, als einzelne Fakten. Das wäre – kurz und einfach erklärt – eine Lehre, in der es keine ‚Musterlösungen‘ mehr gibt.

Offene und demokratische Gesellschaften brauchen mehr Ambiguitätstoleranz

Die Verleugnung oder Verdrängung von Ambiguität wird in unserer heutigen Gesellschaft zunehmend normal. Auf den ersten Blick wirkt das nicht einleuchtend, weil man zwar auf der einen Seite natürlich wahrnimmt, dass fundamentalistische Positionen an Einfluss gewinnen – und diese eben ein sehr klares „Schwarz-Weiß“-Denken propagieren. Zugleich gibt es aber auch die Erfahrung, dass ja auch sehr viel mehr Offenheit für Vielfalt da ist, als das vielleicht früher noch der Fall war. Leider haben wir es dabei aber oft mit einer unendlichen Bedeutungsvielfalt zu tun, was im Kern dann nicht Mehrdeutigkeit ist, sondern Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. In seinem Buch ‚Die Vereindeutigung der Welt‘ stellt Thomas Bauer diese Entwicklung mit vielen konkreten Beispielen aus Religion, Politik und Kunst dar.

Solch eine Beliebigkeit und Gleichgültigkeit auf der einen und eine zunehmende Fundamentalisierung auf der anderen Seite bestärken sich gegenseitig. Wenn wir dagegen in offenen und demokratischen Gesellschaften leben wollen, dann wäre es wichtig, Ambiguität als unvermeidbar anzuerkennen – und nach dem richtigen Maß an Ambiguität zu streben, anstatt sich auf die eine oder andere Seite der Achse von Ambiguitätsvermeidung (= Fundamentalisierung oder Gleichgültigkeit) zu begeben. Damit wir diese Herausforderung als Individuen und als Gesellschaft aber angehen können, müssen wir gelernt haben, dass Ambiguität nicht nur Gefahr und Überforderung darstellt, sondern vor allem auch eine Quelle für Freude und insbesondere auch für persönliches Lernen und Wachstum sein kann. Das bedeutet also, ‚Liebe zur Mehrdeutigkeit‘ oder – weniger pathetisch – mehr Ambiguitätstoleranz bewusst als Ziel von Bildung zu sehen.

Ambiguität als Transformationspotenzial

An dieser Stelle schließt sich dann der Kreis zu meiner ursprünglichen These, dass die größere Beachtung von mehr Ambiguität in der Bildung transformatives Potenzial entfalten kann. Egal an welcher Stelle ich hier ansetze – auf der Ebene des Lernens, der Lerngestaltung oder der Lernergebnisse – immer wird es dazu führen, dass eine größere Beachtung von Ambiguität zu Transformationen auch in den anderen Bereichen herausfordert.

Wir können das mit dem Lernen als Ausgangspunkt durchspielen: Wenn ich Ambiguität in Lernprozessen eine größere Rolle beimessen will, dann bedeutet das für die Lehre, dass ich an natürliche Lernprozesse anschließen muss und die Entwicklung von individuellen Verbindungen in den Köpfen der Lernenden wichtiger nehmen muss als die Vermittlung isolierter Fakten. Das führt zu einer Bildung, die weniger abprüfbar ist, aber gerade dadurch deutlich mehr Handlungsfähigkeit in einer von Ambiguität geprägten Gesellschaft ermöglicht. Besonders cool ist dabei, dass die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen sich dann gegenseitig bestärken und so immer besser funktionieren: Wenn ich also auf abprüfbare Faktenlehre verzichte und natürliches Lernen unterstütze, dann werden Lernende Schritt für Schritt durch die dann erfolgende gezielte Unterstützung mehr und mehr Verbindungen für sich herstellen können – und so immer weiter zum Lernen begeistert werden.

Leider lässt sich dieser Prozess natürlich ganz genau so auch umkehren – und damit sind wir vielleicht näher an unserer aktuellen Realität: Wenn wir Ambiguität in unserer Gesellschaft verleugnen und entweder in Fundamentalismus oder in Gleichgültigkeit rutschen, dann braucht es auch in der Bildung keine Lern- und Lehrprozesse mit Ambiguität. Wir können stattdessen weiter an der traditionellen Lernkultur festhalten.

Ambiguität und die Rolle der Technologie

Ich schreibe diesen Blogbeitrag sehr unter dem Eindruck meiner Lektüre von Seymour Paperts Buch ‚The Children’s Machine‘. Das Buch stammt vom Anfang der 90er Jahre, als die ersten Computer in den Schulen ankamen, aber das Internet und erst recht KI-Technologie, wie wir sie heute kennen, noch in weiter Ferne lag. Seymour Papert entwirft in seinem Buch aus dieser Perspektive heraus mit sehr viel Technik- und Bildungsoptimismus ein Bild von Lernen in selbstverständlicher Interaktion mit Technologie, das uns wieder zu einem natürlichen und damit zu einem Lernen mit Ambiguität – wie oben beschrieben – zurückführen kann. Ich finde insbesondere zwei Bilder aus dem Buch für mein Weiterdenken zu Ambiguität und der Rolle von Technologie sehr plastisch:

  1. Papert weist auf den ersten Motorflug hin, der mit seinen (beim letzten Versuch) superkurzen 59 Sekunden im Vergleich zu den damals ansonsten schon existierenden Fortbewegungsmöglichkeiten lächerlich war. Man hätte diese neue Technologie also einfach zur Seite schieben können. Stattdessen blickten Menschen aber mit einem „Was könnte daraus weiter entstehen?“-Blick darauf – und so kam es, dass in der Folge die Menschen bis ins Weltall fliegen konnten. (Zur Ambiguität gehört hier dann natürlich auch der Hinweis, dass man berechtigt einwenden kann, ob solch ein „schneller, höher, weiter“ wirklich ein Fortschritt ist – oder nicht ein ganz anderer Blick auf die Technologie viel hilfreicher gewesen wäre.)
  2. Im Kontext der Bildung wählt Papert das Bild, dass ein Düsenjet an eine Pferdekutsche angeschlossen wird – was natürlich völliger Blödsinn ist und gar nichts bringt. Genau so erscheint es ihm aber oft, dass neue Technologien in die Bildung integriert werden. Sie werden an die bestehende Lernkultur „drangeklatscht“, was keine Hilfe ist – sodass sie dann im Kern immer weiter einverleibt und angepasst werden, anstatt dass die Lernkultur mit den Möglichkeiten der Technologie im Blick grundlegend verändert wird.

Im Kontext der Debatte um generative künstliche Intelligenz in Form großer Sprachmodelle und mit dem dargestellten Blick auf die fehlende Berücksichtigung von Ambiguität eröffnen sich hier aus meiner Sicht interessante Perspektiven zum Weiterdenken. Dazu ist eine kurze Einordnung nötig:

Neben grundsätzlicher und aus meiner Sicht sehr berechtigter Kritik an KI (Ressourcenverschwendung, soziale Ausbeutung, fehlende Transparenz und Demokratie …) liegt der Hauptfokus der Kritik bei KI-Sprachmodellen in der Bildung insbesondere auf den sogenannten „Halluzinationen“. Diese sind allerdings keine „Unfälle“, sondern in der Technologie angelegt. Die KI-Bots antworten uns nie verständig, sondern immer stochastisch – also nach einer Wahrscheinlichkeitsberechnung. Dabei kommen dann mal Ergebnisse raus, die näher an realer Welterfahrung liegen (= wir ordnen die Antwort als korrekt ein), und mal mehr davon entfernt sind (= wir ordnen die Antwort als Halluzination ein). Der pädagogische Blick auf KI-Sprachmodelle ist meist, dass das ein notwendiges Übel ist, das aber das sonstige Potenzial von KI-Sprachmodellen zum Lernen nicht schmälert (und hoffentlich mit besseren Modellen auch weniger wird).

Wie wäre es aber, wenn wir KI-Sprachmodelle als etwas einordnen würden, was natürliche Lernprozesse gerade wegen dieser stochastischen Funktionsweise befördert – während es eben nur für das traditionelle Faktenlernen ein Problem ist? Wie wäre es, wenn wir KI-Sprachmodelle dann als Lernwerkzeuge nutzen, mit denen wir ganz ausgezeichnet weitere Verbindungen und Vernetzungen herstellen können – weil wir in diesem Fall ja immer an etwas anschließen und den Output einordnen können –, während es gar nicht mehr gebraucht wird, auf fremdbestimmte Fragen nach Antworten zu suchen, was uns dann in Gefahr bringen könnte, nicht nur isolierte Fakten, sondern sogar falsche isolierte Fakten abzuspeichern? Wie wäre es, wenn wir KI-Sprachmodelle als bewusst mehrdeutige „Resonanzmaschinen“ verstehen, die uns keine Antworten liefern, aber uns unterstützen können, die Welt gemeinsam mit anderen und mit pädagogischer Unterstützung immer weiter zu erschließen? Und wie wäre es dann, genau diese Perspektive und das damit verbundene Potenzial zum Anlass zu nehmen, um unsere Lernkultur tatsächlich zu verändern – anstatt auch diese Technologie mit Orientierung auf Automatisierung und Vereinfachung der bestehenden Lehrpraxis, mit möglichst klar strukturierten KI-Kompetenzmodellen zum Abhaken und mit einer Optimierung von Musterlösungs-Prüfungskultur in das bestehende Bildungssystem einzuverleiben und es so zu zementieren?

Mir ist bewusst, dass dazu sehr andere Sprachmodelle nötig wären – mit bewusster Abbildung von Vielfalt, insbesondere auch in sprachlicher Hinsicht, mit mehr Transparenz und vor allem mit demokratischer Gestaltung. Für solch eine Entwicklung von Technologie ließe sich gemeinsam eintreten, wenn wir das mit dem Ziel von mehr Ambiguität in der Bildung verknüpfen.

Ich möchte mit einem Disclaimer enden: Vielleicht ist dieser – für mich ungewohnt technikoptimistische – Blick ziemlich unrealistisch bzw. verfehlt. Vielleicht schätze ich auch die Möglichkeiten von KI-Technologien falsch ein. Die Überlegungen, dass wir in der Bildung aber mehr Ambiguität wagen sollten, bleiben davon aus meiner Sicht unbenommen. Mindestens daran möchte ich sehr gerne weiterdenken – und freue mich deshalb sehr über deine Ideen und Perspektiven dazu.

Das Beitragsbild ist gemeinfrei und mit ChatGPT generiert.


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