Sehr viel meines eigenen Lernens und Lehrens geschieht in einer gesamtgesellschaftlichen oder pädagogischen Dynamik. In den letzten Jahren waren solche größeren Wellen beispielsweise die Lockdowns der Corona-Pandemie, die mich dazu brachten, viel zur Online-Bildung zu erkunden. Weniger weit zurück liegt die Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT durch das Unternehmen OpenAI im November 2022, was dazu führte, dass ich mich intensiv mit guter Mensch-Maschine-Interaktion und den Möglichkeiten von Technologie als Lernassistenz auseinandersetzte. Ähnliche Dynamiken gibt es auch im Kleinen. Ich bekomme sie oft auf Veranstaltungen mit oder wenn ich Social-Media-Debatten aufmerksam verfolge. Dabei geht es dann oft um bestimmte Begrifflichkeiten oder Schwerpunkte. Aktuell liegt meiner Wahrnehmung nach beispielsweise der Begriff des „selbstregulierten Lernens“ sehr im Trend. Vor einiger Zeit habe ich noch sehr viel zu Resilienz und Nachhaltigkeit gelesen und auch selbst geschrieben.
Solche Dynamiken führen auf der einen Seite dazu, dass viele Menschen zwar eigentlich unabhängig voneinander, aber durch die zeitliche Synchronität doch gemeinsam an einem Thema arbeiten und es auf diese Weise sehr gut voranbringen können. Für mich individuell bedeutet ein Mitmachen bei solch einer Dynamik meist viel Resonanz und damit auch Austausch, was sehr lernförderlich sein kann. Zugleich hat solch eine Dynamik aber immer auch eine Schattenseite: Ich merke, dass ich – in solch einer Dynamik mitschwimmend – vieles als gegeben hinnehme und wenig hinterfrage. Außerdem heißt Dynamik oftmals auch Hype, was dann zu wenig hilfreichen Übertreibungen oder einer Einseitigkeit führen kann.
Deshalb plädiere ich in diesem Blogbeitrag dafür, neben der Dynamik immer auch ganz bewusst in Distanz davon zu gestalten – also zu versuchen, im Spannungsfeld zwischen Dynamik und Distanz zu lehren und zu lernen. Wie so etwas praktisch aussehen kann, teile ich anhand von sechs Beispielen aus meiner pädagogischen Praxis. Vielleicht kannst du aus dieser Reflexion Anregungen für dein eigenes Lernen und Lehren mitnehmen.
1. Eigene Möglichkeiten erweitern!
Mit Distanz auf eine Dynamik zu blicken, ermöglicht es mir oft, etwas ganz anderes auszuprobieren und mich so in Bereichen weiterzuentwickeln, die ich ohne diesen Abstand wahrscheinlich gar nicht ins Auge gefasst hätte. Der Auslöser ist in diesem Fall oft eine gewisse Genervtheit oder ein Überdruss mit einer Dynamik, die sich zu einem Hype entwickelt. Meine Reaktion ist somit vielleicht sogar ein bisschen so etwas wie eine Trotzreaktion.
Das offensichtlichste Beispiel dafür sind meine ‚Kritzelpräsentationen‘ – also Präsentationen, die ich ganz analog aufzeichne, dann einscanne und so präsentiere. Ich habe solche Kritzelpräsentationen gestartet, als um mich herum plötzlich fast nur noch Präsentationen mit KI-generierten Bildern zu sehen waren – und auch ich selbst eine Präsentation mit KI-Bildern nach der anderen gestaltete. Eine bewusste Distanz bedeutete für mich in diesem Fall, den ganz genau entgegen gesetzten Weg einzuschlagen: Statt einfach wie früher Präsentationen mit eigenen oder Creative Commons lizenzierten Bildern (aber eben ohne KI) zu gestalten, holte ich Stifte und Papier heraus und fing an zu kritzeln. Das kostete erst Überwindung, aber machte dann schnell immer mehr Freude. Ich mag dieses Beispiel, weil es sehr anschaulich zeigt, wie aus bewusster Distanz zu einer Dynamik individuelle Weiterentwicklung entstehen kann. In meinem Fall wagte ich mich an etwas, das zuvor weit außerhalb meiner Komfortzone lag.
(Noch spannender wird es übrigens, wenn ich mir anschaue, wie sich meine Kritzelpräsentationen seit meinen ersten Versuchen weiterentwickelt haben. Sie wurden nämlich mit der Zeit immer vielfältiger im Sinne eines großen Mischmasch: mit eigenen Kritzeleien, CC-lizenzierten Bildern, Fotos und auch ein paar KI-generierten Bildern – mit unterschiedlichen experimentellen Ausprägungen. Diesen Mix-Stil habe ich wahrscheinlich nur deshalb entwickeln können, weil ich mich zuvor sehr intensiv sowohl in Dynamik als auch in Distanz begeben hatte.)
2. Pädagogischen Kern reflektieren
Dynamik in der aktuellen Zeit erlebe ich oft Technologie-getrieben. Insbesondere zeigt sich das natürlich an der aktuellen KI-Debatte in der Bildung. In diesem Fall bedeutet Distanz für mich unter anderem, in der Dynamik nach dem pädagogischen Kern zu suchen und diesen in den Fokus zu nehmen.
Am Beispiel von KI lässt sich das verdeutlichen. In der Dynamik wäre die wohl wichtigste Frage: „Wie lerne und lehre ich mit KI?“ Wenn ich mit Distanz versuche den pädagogischen Kern zu reflektieren verändert sich diese Frage zu: „Was ist gutes Lehren und Lernen – und wie lässt sich das in einer KI-geprägten Welt realisieren?“
3. Etwas Altes neu ausprobieren!
Eine dritte Möglichkeit, mit Distanz auf Dynamik zu blicken, ist es, sich im Kontext aktueller Entwicklungen an frühere Ideen zu erinnern – und diese unter neuen Vorzeichen wieder aufzugreifen.
Ein Beispiel ist hier die von mir wahrgenommene Dynamik hin zu Digital Detox und bewusster Smartphone-Abstinenz. Das erlebe ich auch in der Erwachsenenbildung. Während ich vor ein paar Jahren noch sehr selbstverständlich davon ausgehen konnte, dass alle (bei mir ja erwachsenen) Lernenden ein digitales Endgerät dabei haben, was wir dann auch zum Lernen nutzen konnten, höre ich jetzt immer häufiger: ‚Ich habe mein Smartphone bewusst nicht dabei!‘. Diese Äußerung ist mir dann auch gar nicht so fremd, weil ich in dieser Dynamik durchaus auch damit erkunde, zum Beispiel ohne Smartphone in der Hand an Konferenzen teilzunehmen oder das Gerät für einen längeren Zeitraum in Arbeitsphasen zur Seite zu legen.
Zugleich finde ich es aber auch wertvoll, zu reflektieren, was in bewusster Distanz zu solch einem Trend ausprobiert werden kann – und dabei frühere Ideen neu zu reflektieren. In diesem Fall kam ich so zum Beispiel auf das so genannte Mobile Learning. Es handelt sich dabei um ein Lernen, das bewusst mit mobilen Geräten (oft dem Smartphone) gestaltet ist – und zum Beispiel auch unterbrechend in Pausen- oder Leerlaufzeiten. Also genau dort, wo in der heutigen Dynamik häufig geraten wird: „Legen Sie Ihr Smartphone beiseite und nehmen Sie sich Zeit, um in Ruhe die Natur zu betrachten.“
Die Idee des Mobile Learning finde ich nun vor allem reizvoll, im Kontext von KI neu zu reflektieren. Die Frage lautet dann: Wie kann ein Mobile-Learning-Angebot aussehen, das KI bewusst nutzt – etwa für vertiefende oder personalisierte Lernimpulse? Mit EPALE (der Europäischen Plattform für Erwachsenenbildung in Europa) habe ich einen experimentierfreudigen Auftraggeber gefunden, und im Mai wird ein entsprechendes Lernangebot zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit genau mit dieser Frage im Hinterkopf stattfinden. Aktuell sitze ich an der Konzeption und bin sehr gespannt, was sich daraus entwickelt!
Dieses Beispiel mag ich übrigens auch deshalb, weil es zeigt: Distanz zur Dynamik muss nicht automatisch weniger digital sein (wie z.B. bei meinen Kritzelpräsentationen). Stattdessen kann Dynamik und Distanz hier auch genau umgekehrt verlaufen.
4. Bewusst genauer hinschauen!
Wenn ich in einer Dynamik mitschwimme, neige ich dazu, viele Dinge „nachzuplappern“. Das klingt drastischer, als es ist, weil das wahrscheinlich nicht nur mir so geht. Stattdessen ist es ja gerade ein Zeichen von einer Dynamik, dass viele Grundsätze und Annahmen sehr weit verbreitet sind – und damit immer weniger hinterfragt werden.
Konkret habe ich solch ein Mitmachen und Nachplappern bei mir kürzlich gemerkt, als ich wieder einmal in einem Lernangebot Beat Döbeli Honeeger mit seiner Frage zitierte: „Wozu soll ich noch lernen, was die Maschine besser kann?“ Ich hatte diesen Reflexionsimpuls schon sehr oft übernommen und weiterverbreitet. Nun fiel mir aber auf: Eigentlich müsste ich ganz genauso auch fragen: Wozu sollte ich die Maschine nutzen, wenn ich etwas lernen will? Denn dadurch wird die Diskussion gedreht – und wir gehen von einem aktiven und sinnerfüllten Lernen aus. (Womit die erste Frage nicht überflüssig ist, aber eben jetzt in meinen Workshops nicht mehr allein steht – ich habe hier dazu gebloggt)
Ähnlich ist es mit bestimmten Begrifflichkeiten, die gut klingen, aber ebenfalls hinterfragt werden können: Ist „Authentizität“ ein Wert an sich – oder geht es nicht eher um eine bewusste und reflektierte Haltung? Ist „individualisiertes Lernen“ wirklich das, was ich möchte – oder sollte ich den Fokus nicht stärker auf „personalisiertes“ Lernen legen? Ist KI-Technologie tatsächlich ein Impuls zur Veränderung der Lernkultur – oder müsste man nicht vielmehr diese Technologie hinterfragen? Solche Fragen entstehen, wenn mich bewusst in Distanz zu Dynamik begebe. Ich habe das besonders intensiv bei meinem gerade abgegebenen Buchmanuskript gemacht – und dabei viele unbewusste Glaubenssätze überprüft, die ich zunächst mal einfach so runtergeschrieben hatte.
5. Besser machen!
Schon im ersten Beispiel habe ich beschrieben, wie Distanz aus einer Genervtheit von einer Dynamik entstehen kann. Statt dann einfach „das Gegenteil“ zu machen, wie ich es oben bei meinen Kritzelpräsentationen beschrieben habe, kann man Distanz auch nutzen, um bewusster zu gestalten – und sich zu fragen, was einem wirklich wichtig ist. Mein Beispiel ist hier die Veränderung meiner Mail-Kommunikation im Kontext von KI. Ich war hier ziemlich genervt von so vielen KI-generierten Mails in meinem Postfach, die sofort als solche erkennbar sind. Beim Nachdenken darüber fiel mir aber auf, dass ich selbst Mails auch meist nur recht routiniert und damit oft lieblos schreibe. In dieser Situation erschien mir mein Genervtsein über die KI-Generierung dann verfehlt. Denn solche schnellen Antwortmails kann ein KI-Sprachmodell wahrscheinlich tatsächlich effizienter und wohl auch konsilianter schreiben.
Bewusst Distanz einnehmen konnte hier nun auch nicht heißen, einfach keine Mails mehr zu schreiben, sondern vielleicht wieder mehr Briefe (was ich grundsätzlich aber auch einen sehr schönen Gegentrend finde). Stattdessen fragte ich mich: Wie sollte Mail-Kommunikation eigentlich aussehen, dass ich sie als etwas Positives erlebe und wie könnte ich das gestalten? Im Ergebnis habe ich damit begonnen, Standardfloskeln und ‚Small Talk‘ am Anfang und am Ende von Mails persönlicher und vor allem auch lernförderlicher zu schreiben – etwa, indem ich teile, was ich gelernt habe, eine Buchempfehlung gebe oder auf eine Veranstaltung hinweise. Mein Ziel ist es, auf diese Weise über meine Mail-Kommunikation ein bisschen soziale Resonanzräume zu öffnen. Das finde ich unter anderem auch deshalb relevant, weil Social Media Plattformen, auf denen ich früher sehr aktiv war, das aus meiner Sicht zunehmend schlechter leisten.
6. Offenheit für Neues entwickeln!
Der letzte Punkt passt nicht ganz zu meinen anderen Beispielen, aber da er für mein Lernen im Kontext von Dynamik und Distanz relevant ist, möchte ich ihn hier trotzdem aufführen. Es geht hier um meine eigene Offenheit für Ideen und Perspektiven, die sich außerhalb einer aktuellen Dynamik bewege. Hier stelle ich fest, dass ich mich – wenn ich auch in meinen eigenen Aktivitäten mich immer wieder bewusst in Distanz übe – einfacher auf ebensolche Perspektiven einlassen kann. Um selbst weiterzukommen, empfinde ich es in diesem Sinne als hilfreich, sich im eigenen persönlichen Lernnetzwerk gezielt mit solchen Menschen zu verbinden, die sehr häufig eher Distanz als Dynamik mitmachen. Auf diese Art und Weise wird das eigene Denken erweitert und herausgefordert.
Fazit
Das waren meine Beispiele für ein bewusstes Austarieren von Dynamik und Distanz in pädagogischen Aktivitäten Vielleicht war das eine oder andere ja auch eine Anregung für dich. In jedem Fall empfinde ich es für mich als sehr hilfreich, auf diese Weise über das eigene Lernen zu reflektieren. Den Blogbeitrag habe ich somit auch deshalb geschrieben, um genau so etwas vorzumachen und zum Nachmachen zu ermutigen.

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Eine Antwort
@nele 👌