Konzept für einen Workshop zur kollaborativen Orientierung bei komplexen Themen

Ich bin auf der Rückfahrt aus Villigst bei Schwerte an der Ruhr, wo ich gestern Nachmittag und heute Vormittag mit der evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung ein Lernangebot zu KI gestaltet habe.

Die Kolleg*innen hatten vorab sehr klare Ziele kommuniziert. Demnach ging es vor allem darum,

  • … dass alle auf einen gemeinsamen, inhaltlichen Stand zu KI kommen.
  • … dass Raum zum Erkunden und Ausprobieren ist.
  • … und dass gemeinsam strategisch reflektiert und geplant werden kann, was politische Jugendbildung im Kontext von KI bedeutet.

Durch die Nutzung von zwei halben Tagen ließen sich diese Ziele gut aufteilen:

  • Wir starteten am ersten Tag am späten Nachmittag mit einem Murmelrundenvortrag. In diesem habe ich vor allem die technischen Grundlagen mithilfe der Tools Autodraw und der Teachable Machine sowie mit dem didaktischen Sprachmodell SoekiaGPT erläutert (= KI ist komplexe Wahrscheinlichkeitsberechnung auf Basis riesiger Datenmengen und keine Magie!), dann die Widersprüchlichkeit von KI-Technologie dargestellt (= Nutze eine ‚Shruggie‘-Haltung im Sinne von Sowohl-als-Auch statt Entweder-Oder) und schließlich noch hilfreiche Nutzungsmöglichkeiten erläutert (= Versuche es mit einer kontra-intuitiven Nutzung und lasse dich herausfordern!).
  • Anschließend folgte ein KI-Tüftellabor, bei dem die Kolleg*innen in Kleingruppen und anhand bereitgestellter Anregungen von mir gemeinsam erkunden und ausprobieren konnten.
  • Darauf aufbauend gab es heute einen Workshop, um gemeinsam zu beratschlagen, wie sich im Kontext dieser nun näher kennen gelernten Technologie gute politische Jugendbildung gestalten lässt.

In diesem Blogbeitrag möchte ich vor allem das Konzept des heutigen Workshops vorstellen. Wir hatten dafür rund drei Stunden Zeit und waren knapp 30 Personen. Das Konzept lässt sich anhand von den folgenden Phasen beschreiben:

Vorab: Ankommen und Orientierung

Wenn Menschen in einen Workshopraum kommen, dann ist es oft der erste Schritt, dass sie sich einen Platz suchen und diesen für die nächsten Stunden ‚einrichten‘. Neben dem Bereitstellen von Getränken gehört hier häufig auch das Auspacken eines Laptops dazu. Außerdem sucht man nach Menschen, neben denen man die nächsten Stunden verbringen möchte. Wenn ein Workshop aber nicht frontal, sondern interaktiv und dynamisch gestaltet wird, dann funktioniert das nicht. Um die Teilnehmenden schon beim Ankommen darauf vorzubereiten, starte ich gerne mit einer Folie, auf der in diesem Sinne Orientierung zum anstehenden Workshop gegeben wird.

Diese Informationen stehen darauf:

  • Analog! Du benötigst heute kein digitales Endgerät. Wir arbeiten analog mit Karten und Co.
  • Dokumentiert! Es wird am Ende eine Dokumentation geben – sowohl zur Methode, als auch zu den Inhalten.
  • Dynamisch! Du wirst häufig den Tisch wechseln, um in unterschiedlichen Konstellationen zu sprechen (oder auch in Bewegung).
  • Interaktiv! Das ist die einzige Folie, die es gibt. Du musst also nicht so sitzen, dass du gut nach vorne schauen kannst.
Meine ‚Ankommens-Folie‘

Der Raum war mit Tischinseln zu je 4-5 Personen bestuhlt.

Phase 1: Rekapitulation und Sammlung

Mein erstes Ziel mit dem Workshop war, allen Teilnehmenden zu ermöglichen, möglichst vielfältige Ideen und Perspektiven zum Thema KI in der politischen Jugendbildung in der Gruppe zu sammeln und auch selbst zu teilen. Außerdem sollte Raum sein, um das Programm des Vortrags vom Vortag zu rekapitulieren und auch weitere Vorerfahrungen zu aktivieren. Dazu nutzen wir drei miteinander unverbundene Methoden:

  1. Zuhörer*in/ Redner*in: Ungefähr 8 der insgesamt knapp 30 Teilnehmenden erhielten eine Karte. Alle bewegten sich durch den Raum. Die Menschen mit der Karte hielten diese nach oben, so dass sich andere Menschen um sie sammeln konnten. Dann hatten sie genau eine Minute Zeit, um zu erzählen, was ihnen zu KI vom Vortag besonders im Gedächtnis geblieben war. Die Menschen, die um sie herum standen hörten zu – ohne direkt ihre Perspektive zu ergänzen oder nachzufragen. Dann wurden die Karten an andere Personen weitergegeben und es bildeten sich neue Gruppen. Insgesamt führten wir drei Runden durch.
  2. Assoziationskette: Alle nahmen an einer Tischinsel Platz. Die erste Person startete mit dem Begriff ‚Künstliche Intelligenz‘ und zeigte auf eine nächste Person. Diese sagte einen Begriff, der ihr zum ersten Begriff KI spontan in den Sinn kam. Zum Beispiel Chatbot. Daraufhin war die nächste Person mit einer Assoziation zu Chatbot an der Reihe. Zum Beispiel Prompt. Diese Assoziationskette lief für ca. 3 Minuten. Ziel war es, möglichst schnell zu reagieren. Am Ende teilten wir den jeweils letzten Begriff im Plenum. Ich mag solche Assoziationsketten, weil sie sehr gut zur Aktivierung von Vorwissen sind und weil es interessant ist, wo die Ketten die unterschiedlichen Gruppen jeweils hinführen. (Bei uns landeten wir heute zum Beispiel unter anderem bei Krieg, Algorithmus und soziale Ungerechtigkeit als jeweils letztgenannte Begriffe). Außerdem finde ich Improvisationsfähigkeit, die mit der Methode entwickelt wird, eine hilfreiche Kompetenz.
  3. One best/ worst/ open thing: Für diese Methode gab ich jeder Person eine leere Karte. Die Karten hatten drei unterschiedliche Farben – bei uns: rot, grün und blau. Jede Farbe gab es ungefähr gleich häufig. Je nach Farbe der Karte, die man erhalten hatte, schrieb man darauf entweder eine positive Sache, die einem zu KI in der politischen Jugendbildung in den Sinn kommt (= bei einer grünen Karte) oder eine negative Sache (= bei einer roten Karte) oder etwas, was eine,m noch unklar ist/ zu dem man noch Fragen hat (= bei einer blauen Karte). Dann bewegten sich alle durch den Raum und tauschten sich immer paarweise zu ihren jeweiligen Karten aus. Danach wurden die Karten getauscht und das nächste Gespräch gesucht. Wir nahmen uns für diesen Austausch rund 10 Minuten Zeit. Ich habe diese Methode sehr wirkungsvoll für gegenseitiges Verständnis und Erweiterung der jeweils eigenen Perspektive erlebt.
Legende zur Beschriftung der jeweils erhaltenen Kartenfarbe

Phase 2: Orientierung und Austausch

Mit den oben beschriebenen Rekapitulations- und Sammlungsmethoden in Phase 1 (sowie dem inhaltlichen Einstieg am Vortag) hatten alle dann ziemlich viele Gedanken zu KI in ihren Köpfen. Wir sortierten diese in Form von kollaborativen Mindmaps, um so zu mehr Orientierung zu kommen. Dabei gingen wir in mehreren Schritten vor:

Als erstes setzten sich wieder alle an eine Tischinsel und erhielten ein Flipchart-Papier. In die Mitte kam das Thema (= Politische Jugendbildung im Kontext von KI). Gemeinsam gestaltete die jeweilige Kleingruppe dann einen ersten Entwurf für eine Mindmap. Ich gab dazu den Hinweis, dass es in dieser Phase nicht mehr darum ging, alles aufzuschreiben, was einem einfiel – sondern sich auszutauschen und gemeinsam zu systematisieren.

Im zweiten Schritt unterbrach ich die Arbeiten kurz für einen Mini-Impuls, was es – orientiert an diesem Beitrag von Per Axbom – in einer auch durch einen KI-Hype geprägten Zeit zu beachten und kritisch zu hinterfragen gilt:

  • Technologie-Anbieter übertreiben oft damit, was KI kann bzw. kündigen an, dass KI sehr bald viel mehr können wird.
  • Technologie-Anbieter propagieren KI häufig als die bessere Lösung gegenüber Angeboten ohne KI.
  • Technologie-Anbieter bezeichnen manchmal etwas mit KI – obwohl es eigentlich gar keine KI ist.
  • Technologie-Anbieter verschweigen vielfach Schäden und Risiken, die durch die Produkte entstehen.

Mit diesen Hinterfragemöglichkeiten im Kopf konnte dann an der Mindmap weitergearbeitet werden.

Vorstellung der ‚Hinterfrage‘-Aspekte auf dem Flipchart

Im dritten Schritt erhielt jeder Tisch eine ‚Superkraft‘ orientiert am Manifest des langsamen Denkens zugeteilt:

  • Superkraft 1: Ihr stellt besonders gut und gerne Fragen! (= Fragen vor Antworten)
  • Superkraft 2: Ihr bringt weitere, mögliche Perspektiven in die Debatte ein (= Perspektive vor Standpunkt)
  • Superkraft 3: Ihr teilt Beobachtungen, die ihr selbst bei euch oder anderen gemacht habt (= Beobachtung vor Bewertung)
  • Superkraft 4: Ihr bringt ein, was ihr selbst oder eure Organisation tun könnte (= Selbstreflexion vor Fremdkritik)

Da wir nicht nur vier Tische, sondern sechs Tische hatten gab es außerdem noch eine Superkraft 5 (= Ihr überlegt euch, wie es auch ganz anders sein könnte) und eine Superkraft 6 (= Joker: Ihr bemüht euch, das abzudecken, was noch fehlt und hilfreich sein könnte).

An jedem Tisch blieb immer eine Person zur Vorstellung der entwickelten Mindmap zurück. Die anderen schwärmten aus und kommentierten mit ihrer jeweiligen Superkraft die Mindmaps von anderen. Wir machten zwei Runden, um allen einen guten Überblick und weiteren Austausch zu ermöglichen. Anschließend kamen wieder die ursprünglichen Gruppen zusammen und verständigten sich kurz, was an ihrer Mindmap noch ergänzt werden sollte.

Phase 3: Fokussierung und Feedback

Nach einer Kaffeepause kam Phase 3. Alle sammelten sich wieder an ihren Tischen und ich verteilte Briefumschläge und kleine Zettel. Die Briefumschläge waren mit den folgenden Fragen orientiert an der Start, Stop, Continue Methode beschriftet:

  • Start: Was sollten wir im Kontext von KI in der politischen Jugendbildung neu beginnen?
  • Stop: Womit sollten wir im Kontext von KI in der politischen Jugendbildung aufhören? Was kann weg?
  • Continue: Was machen wir schon, was im Kontext von KI wichtig bleibt oder wichtiger wird?

Jeden Briefumschlag gab es doppelt. In den Kleingruppen wurde nacheinander zu jeder Frage möglichst viele Karten beschriftet, dann in den Umschlag gesteckt und dann an die nächste Gruppe weitergegeben. Diese schaute sich die Karten nicht an, sondern schrieb für sich weitere Karten und steckte sie auch in den Umschlag. Am Ende erhielt jede Gruppe einen gut gefüllten Umschlag zu ihrer ursprünglichen Frage zurück und hatte die Aufgabe, die Karten zu sortieren, zu clustern und darauf aufbauend einen Elevator Pitch vorzubereiten.

Normalerweise stellt dann immer nur je eine Person diesen entwickelten Elevator Pitch im Plenum vor. Da wir zu jeder Frage zwei Gruppen hatten, kamen immer zwei vorstellende Personen zusammen, was dazu führte, dass dialogartig vorgestellt werden konnte. Das war sehr auflockernd und machte viel Freude!

Als letzten Schritt nutzen wir dann noch ein Silent Writing. Jede Person schrieb für sich ein mögliches Fazit auf, was nun in der politischen Jugendbildung wichtiger wird. Diese Karten wurden dann in einem Crowdvoting bewertet (= Jede Karte wurde fünfmal in Paargesprächen besprochen und mit der Karte des jeweiligen Partners verglichen. In jeder Runde konnten 7 Punkte vergeben werden, die man somit auf die beiden Karten aufteilen musste). Die höchst gevoteten Karten stellten wir im Plenum vor.

Zum Abschluss gab es ein schnelles Blitzlicht für Feedback.

Fazit

Den Rückmeldungen der Teilnehmenden zu urteilen und auch meinem eigenen Eindruck nach war es ein sehr intensiver und wirkungsvoller Workshop. Die Weiternutzung dieser Methoden kann ich vor allem für Gruppen empfehlen, in denen sich die einzelnen Personen individuell schon einige Gedanken zum Thema gemacht haben und wo es nun darum geht, gemeinsam für die ganze Gruppe Orientierung zu finden.

Herzlichen Dank für die Einladung und die gute Zusammenarbeit. Ich hatte viel Freude bei der Gestaltung!


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