In einem Beitrag für das Deutsche Schulportal plädiert John Hattie für ‚maßgeschneidertes Lernen‘. Ausgangspunkt seines Beitrags ist die zunehmende ‚Passgenauigkeit‘ von Lernangeboten im Kontext von KI und Digitalisierung. Anstelle einer falsch verstandenen Differenzierung, die Lernende auf ihrem Entwicklungsniveau verharren lässt und Lernen zu sehr individualisiert, soll Lernen aus seiner Sicht stattdessen als sozialer Prozess gestaltet sein und Lernende herausfordern. Diese grundsätzliche Orientierung teile ich sehr. Meine beiden Leitsterne dazu sind erstens ‚Lernen als Herausforderung‚ und zweitens ‚Befähigung zu kollektiver Wirksamkeit‚.
Über den Beitrag von John Hattie kam ich nun dazu, diese beiden Leitsterne stärker zusammen zu denken. Bevor ich dazu komme, möchte ich zunächst meine Sichtweise auf sie genauer umreißen.
(Den Begriff des ‚maßgeschneiderten Lernens‘ und auch eine aus meiner Sicht sehr starke Lehrendenorientierung, die in dem Beitrag von John Hattie durchschimmert, finde ich eher schwierig, aber darum soll es im Folgenden nicht gehen).
Lernen als Herausforderung
Nicht erst im Kontext von KI wird Digitalisierung im Bildungskontext vor allem mit dem Versprechen vorangetrieben, dass Lernen auf diese Weise immer passgenauer werden kann. Als Kritik hieran passt die schon über 100 Jahre alte Geschichte von Célestin Freinet ‚Adler steigen keine Treppen‘. Sie handelt von einem Pädagogen, der für Lernende eine methodische Treppe baute und sehr viel Wert darauf legte, dass die Stufen genau passend zu den kindlichen Bedürfnissen waren. Kaum passte der Pädagoge allerdings nicht auf, machten die Lernenden seine ganzen Bemühungen zunichte, indem sie über die Stufen sprangen oder rückwärts liefen oder sogar hinter dem Haus die Balustrade hochkletterten und dann das Treppengeländer herunter rutschten. Im KI-Zeitalter können wir uns hier sehr gut eine ‚intelligente‘ Treppe vorstellen. Diese Übertragung habe ich in einem früheren Beitrag versucht.
Mit dieser Kritik an passgenauer Bildung ist aber noch wenig zu den möglichen Alternativen gesagt. Célestin Freinet setzt (zumindest in dieser Geschichte) auf das natürliche Bedürfnis der Lernenden, etwas selbst herausfinden zu wollen. Im klassischen Schulalltag, in dem Lernfreude viel zu oft leider schon verloren gegangen ist, reicht das aber häufig nicht aus. Lernen als Herausforderung muss deshalb mehr sein, als einfach nur die Lernenden aus sich selbst heraus entwickeln lassen. Es braucht bewusste und gute Lerngestaltung bzw. Lernermöglichung.
Ich schlage hierzu drei Orientierungen vor:
- Nicht nur passend machen, sondern auch irritieren: Gutes Lernen braucht Auslöser. Der für mich wahrscheinlich beste Auslöser ist Irritation. Wenn ich als Lernerin auf etwas stoße, das ich nicht mit dem in Einklang bringen kann, wie ich mir bisher die Welt erkläre, dann bin ich herausgefordert, zu lernen. Eine ganz simple Art von Irritation kann es in diesem Sinne auch sein, dass ich gerne etwas hinbekommen will, aber es mir nicht gelingt. Auch dann werde ich versuchen, dazu zu lernen, um die Herausforderung bewältigen zu können.
- Nicht nur suchen lassen, sondern auch begeistern: Gutes Lernen braucht – frei nach Reinhard Kahl – ‚radikale Gegenwart‘. Als pädagogisch verantwortliche Person kann und sollte ich mich nicht zurücklehnen und Lernende alleine suchen lassen, von was sie sich herausfordern lassen können, sondern ich sollte sie mit der Welt konfrontieren. Dazu gehört all ihre Schönheit, aber genauso auch ihre Widersprüche und Herausforderungen. So kann Begeisterung entstehen, durch die Lernen angetrieben wird.
- Nicht nur rekapitulieren, sondern auch entwickeln: Gutes Lernen braucht schließlich – gerade in einer sich schnell wandelnden, vielfältigen und komplexen Welt – ausreichend Offenheit, um neue Antworten entwickeln zu können. Ohne solch eine Offenheit fehlt ein wesentlicher Bestandteil von Herausforderung.
Diese drei Orientierungen können in der Lerngestaltung aus meiner Sicht dazu führen, dass Lernende – anders als bei nur ‚passgenauen‘ Angeboten – herausfordert werden.
Befähigung zu kollektiver Wirksamkeit
Neben dem selbstgesteuerten Lernen ist auch Selbstwirksamkeit ein häufig anzutreffender Begriff in aktuellen Bildungsdebatten. Lernende sollen erfahren können, dass sie mit ihrem Handeln einen Unterschied machen können. Ähnlich wie auch das personalisierte Lernen hin zu einem Lernen, das herausfordert, weiter gedacht und konkretisiert werden muss, so braucht aus meiner Sicht auch das Ziel der Selbstwirksamkeit eine Ergänzung hin zu einer Gruppenwirksamkeit. Als Fachbegriff hat sich hier die kollektive Wirksamkeit etabliert.
Kollektive Wirksamkeit ist erstens ganz direkt auf der Ebene des Lernens selbst wichtig. Denn wenn es um ein Lernen zu komplexen Herausforderungen geht, dann werde ich als lernende Person mit meiner einzelnen Perspektive deutlich weniger erfolgreich sein, als wenn vielfältige Perspektiven berücksichtigt werden.
Sehr schön lässt sich das an einem so einfachen Beispiel wie dem Verständnis eines Textes erläutern. Wenn ich diesen nur alleine lese und mir die wichtigsten Aspekte für mich notiere, werde ich deutlich weniger davon mitnehmen, als wenn die Methode des so genannten Text Renderings genutzt wird: Eine Gruppe Lernender findet sich zusammen, alle teilen je einen für sie wichtigen Begriff und einen wichtigen Satz aus dem Text. Gemeinsam tauscht man sich dazu aus. Mit dieser Methode wird der Text sehr vielfältig erschlossen und das Lernen somit als deutlich wirksamer erlebt.
Der Schritt von Selbstwirksamkeit hin zu kollektiver Wirksamkeit ist zweitens nicht nur für den Prozess des Lernens selbst, sondern auch als Lernziel entscheidend. Denn allein mit Selbstwirksamkeit werde ich in einer komplexen Gesellschaft immer wieder an Grenzen stoßen und nicht weiterkommen. Erst wenn ich nicht isoliert, sondern gemeinsam mit anderen agiere, dann wird es deutlich besser gelingen, gemeinsam gesamtgesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.
(Falls du noch mehr zu kollektiver Wirksamkeit lesen willst, empfehle ich dir meine letzte Edumail)
Lernen als Herausforderung durch Befähigung zu kollektiver Wirksamkeit
Sehr spannend finde ich es nun, diese beiden Leitsterne zusammen zu bringen. Für mich war es hier ein Aha-Effekt, als ich mir klarmachte, dass Lernen als Herausforderung gerade dann gut gelingen kann, wenn ich als ein Ziel des Lernens die Befähigung zu kollektiver Wirksamkeit setze und Lernen deshalb ganz bewusst als sozialen Prozess gestalte. In diesem Fall werden dann nämlich die drei oben aufgeworfenen Herausforderungen durchgängig unterstützt:
- Andere Menschen irritieren mich und ich bekomme nicht – wie es z.B. bei einem KI-Sprachmodell der Fall ist – ganz genau das vorgesetzt, was ich erwartet habe oder über einen Prompt angefordert habe.
- Durch die Interaktion mit anderen Menschen entsteht Resonanz und es können sich Anliegen entwickeln, die ich oder die wir gemeinsam in dieser Welt angehen wollen. Sozialer Austausch kann gut gestaltet eine wichtige Quelle für radikale Gegenwart sein.
- Soziales Lernen im Sinne einer gut gestalteten Kollaboration ist per se immer ein offenes Lernen. Denn es geht bei gut gestalteter Zusammenarbeit ja gerade nicht darum, nur einzelne Perspektiven zusammen zu addieren (= Perspektive von Zusammenarbeit als Puzzle), sondern durch das Zusammenbringen verschiedener Perspektiven zu ermöglichen, dass etwas Neues entsteht (= Perspektive von Zusammenarbeit als Jazzband).
Fazit
Die Perspektive von Lernen als Herausforderung durch Befähigung zu kollektiver Wirksamkeit ist sicherlich kein neuer Gedanke. Für mich fand ich es hilfreich, mir gerade im aktuellen KI-Kontext diese Verbindung noch einmal genauer ins Gedächtnis zu rufen. Das hilft mir bei der Orientierung, worum es bei Lerngestaltung unbedingt gehen sollte.
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