Wie bleibt man als lehrende Person zugleich eine lernende Person?

Die Corona-Zeit hat mir bislang beruflich sehr gut gefallen. Allerdings nicht primär deshalb, weil plötzlich viel mehr online stattfand. Vielmehr mochte ich den Experimentiermodus und die Offenheit, die an so vielen Stellen im Bildungssystem zu beobachten war. Ich konnte Dinge sagen wie: ‘Ich habe das noch nie gemacht und es könnte grandios scheitern, aber ich würde es gerne ausprobieren. Ist das okay?’ Und die Antwort darauf war fast immer: ‘Ja, sehr gerne. Da können wir ja alle davon lernen.’

Inzwischen habe ich den Eindruck, dass mehr und mehr ‘Normalität’ zurückkehrt. Vieles findet wieder an physischen Orten statt und dann häufig wieder genau wie vor Corona. Und dort wo weiterhin Online-Veranstaltungen organisiert werden, haben sich auch diese eingeschliffen und finden oft nach den immer wiederkehrenden gleichen Mustern statt.

Zum Teil ist das verständlich und sicherlich auch nicht immer verkehrt. Dennoch wünsche ich mir, dass von Corona vor allem einiges von dem anfänglichen Experimentier- und Ausprobiermodus bleibt. Ich habe deshalb darüber nachgedacht, warum es an einzelnen Stellen des Bildungsbereichs schon vor Corona so viele innovative Ideen und Erkundungen gab – an anderen aber gar nicht. Und ob es Ansätze gibt, die Pädagog*innen dabei unterstützen können, einen Experimentiermodus als neue Normalität kontinuierlich zu leben.

Warum Experimentiermodus?

Für mich sprechen insbesondere drei Punkte für einen Experimentiermodus als Normalzustand in der Bildung:

  1. Neu und anders denken: Das Bildungssystem steht vor riesigen Herausforderungen. In dieser Situation wäre es ziemlich blödsinnig, unsere Energie darauf zu verschwenden, das Bestehende zu zementieren und zu festigen. Vielmehr muss es darum gehen, überall, wo es knirscht, zu hinterfragen sowie neu und anders zu denken. Dazu braucht es unter anderem Pädagog*innen, die sich selbst als lernende Lehrende verstehen und in diesem Sinne eine ‘Experimentiermodus-Haltung’ leben.
  2. In einer Situation des ‘Überflusses’ gestalten: Kultur der Digitalität heißt unter anderem mit einen riesigen Überfluss an Möglichkeiten konfrontiert zu sein. Die Herausforderung besteht darin, mit diesem Überfluss produktiv umzugehen. Das bedeutet: sich von Überfluss nicht einschüchtern oder erschlagen lassen, sondern mit dem Überfluss zu gestalten. Nötig ist dazu kontinuierliches Auswählen, Ausprobieren, Erkunden, wieder Verwerfen, Reflektieren, neu Lernen … Genau das findet sich in einem Experimentiermodus wieder.
  3. Offene Lernprozesse ermöglichen: Zeitgemäße Bildung bedeutet nicht die Vermittlung eines feststehenden ‘Wissens-Kanons’, sondern offene Lernprozesse, die von den für die Lernenden relevanten Fragen ausgehen. Nur so lassen sich die Kompetenzen entwickeln, mit denen sich Lernende selbstbestimmt und gestaltend in die Gesellschaft einbringen können. Lernprozesse sind aber nur dann offen, wenn das Ergebnis nicht schon vorab feststeht. Deshalb ist jeder (zeitgemäße) Lernprozess eine Art Experiment, auf das sich Lehrende wie Lernende einlassen müssen.

10 Ansätze für einen Experimentiermodus als Normalzustand

Wer sich einen Experimentiermodus als Normalzustand in der Bildung wünscht, hofft sicherlich nicht auf immer weitere Pandemien oder andere Katastrophen, die das Bildungssystem durcheinander bringen und einen selbst vor neue Herausforderungen stellen. Wie aber kann man sich selbst als Pädagog*in dabei unterstützen, einen kontinuierlichen Experimentiermodus zu praktizieren? Hier folgen 10 Vorschläge dazu:

1. Suche nach bildungsbereichsübergreifendem Austausch!

Die für mich spannendsten Bildungsveranstaltungen sind meistens die, bei denen sehr unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen. Unterschiedliche Perspektiven kann zum Beispiel bedeuten, dass Menschen aus verschiedenen Bildungsbereichen beteiligt sind. Der Experimentiermodus entwickelt sich bei einem bildungsbereichsübergreifenden Austausch dadurch, dass unterschiedliche Herausforderungen, Prioritäten und Erfahrungen durcheinander gemischt werden – und so Neues entstehen kann. Meiner Erfahrung nach ist das immer wieder spannend und weiterführend.

Meine erste Empfehlung ist deshalb, dass Du z.B. wenn Du Veranstaltungen besuchst oder selbst welche konzipierst nach Möglichkeit darauf achtest, dass sie bildungsbereichsübergreifend angelegt sind. Alternativ/ zusätzlich kann auch ein internationaler Blick helfen. Auch darüber erhalte ich oft zahlreiche Impulse.

2. Arbeite zu fächerverbindenden Inhalten!

Ähnlich wie bildungsbereichsübergreifendes Lernen unterschiedliche Perspektiven sichtbar machen kann, kann das auch mit fächerübergreifenden Inhalten gelingen. Ein wunderbares Beispiel ist hierfür der Bereich von Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), den ich als sehr innovativ und voranschreitend erlebe. Aus meiner Sicht liegt das vor allem auch daran, dass hier mit zahlreichen unterschiedlichen ‘Brillen’ (naturwissenschaftlich, geisteswissenschaftlich …) diskutiert wird. Im Ergebnis entstehen sehr spannende Konzepte und Inhalte zum Lehren und Lernen.

Hilfreich für einen kontinuierlichen Experimentiermodus ist somit der Austausch und falls möglich auch die praktische Zusammenarbeit mit Menschen, die einen anderen fachlichen Hintergrund haben, als man selbst.

3. Nimm Dir bewusst Zeit fürs Ausprobieren!

Ein Experimentiermodus als gelebte Praxis hat sicherlich viel mit der Haltung der beteiligten Personen zu tun. Aber auch solch eine Haltung entwickelt sich nicht ‘einfach so’, sondern kann unterstützt werden. Als Methode mag ich hierfür die (Digital) Sandbox Time sehr gerne. Es handelt sich dabei um eine bewusste Ausprobier-Zeit z.B. für ein bestimmtes technisches Tool. Dabei können alle Beteiligten das Tool zunächst beliebig und ganz offen testen und erkunden. Am Ende nimmt sich die Gruppe gemeinsam Zeit, um über die gemachten Erfahrungen zu reflektieren. In diesem Zusammenhang kann auch überlegt werden, ob und wie das ausprobierte Tool in den eigenen Lehr- und Lernprozessen zum Einsatz kommen könnte.

Hilfreich finde ich an der Methode, dass der Experimentiermodus hier in einem ‘kontrollierbaren’, überschaubaren und vor allem bewusst gewählten Rahmen stattfindet. So ist eine niederschwellige Beteiligung daran möglich – auch für Menschen, die für sich noch nicht eine ‘Ich bin offen für Erkundungen’-Haltung entwickelt haben.

Eine ‘Digital Sandbox-Time’ lässt sich übrigens auch als ‘Selbstverpflichtung’ für einen selbst gestalten. Das bedeutet, dass man sich ganz bewusst vornimmt, z.B. einmal im Monat in einem Seminar etwas bis dato Neues auszuprobieren – und sich danach Zeit für eine Reflexion zu nehmen.

Natürlich funktioniert die Sandbox Time nicht nur für digitale Tools, sondern ganz genauso auch für neue Methoden, neue Formate oder andere neue Konzepte.

4. Lerne von ‘Pionier*innen’!

Die so genannte ‘Bleistift-Metapher’ visualisiert in Bezug auf die Nutzung digitaler Medien, wie Menschen mit Neuem umgehen. Die ‘Bleistiftspitze’ sind hier die Menschen, die zu den ersten gehören, die neue Technologien ausprobieren und ihre Erfahrungen weitergeben. Wer einen Experimentiermodus in der Bildung für sich aufrechterhalten will, sollte unbedingt nach solchen ‘Menschen von der Bleistiftspitze’ Ausschau halten. Sie sind es, von denen man lernen kann und neue Inspirationen erhält.

Natürlich muss dabei jede Person für sich selbst definieren, was die ‘Bleistiftspitze’ für sie ist. Meine Beobachtung ist, dass ‘die Bleistift-Spitze’ oft gar nicht die großen ‘Edufluencer’ sind, die oft ‘nur’ den Mainstream perfektionieren. Vielmehr sind es (zumindest bei mir) vielfach Menschen, die schräg zu Bestehendem stehen und deshalb manchmal auf den ersten Blick auch ‘störend’ denken. Auf diese Weise stellen sie meine Routinen und Gewohnheiten in Frage und fordern mich zum Weiterdenken heraus.

5. Nutze Internetquatsch!

Internetquatsch ist für mich oft der erste Schritt zum Erkunden, Ausprobieren und Lernen. Denn er schafft einen Rahmen, in dem oft andere Regeln gelten, als normal, in dem gelacht wird und in der auch ohne direkte Nützlichkeitserwägung einfach so herumgesponnen werden kann. Dabei entstehen dann oft die besten Ideen. Und Internetquatsch schafft eine Stimmung, in der Erkunden und Experimentieren gern gesehen ist.

Viele meiner Internetquatsch-Ideen kuratiere ich auf der Website Internetquatsch.de – aber natürlich lässt sich auch ganz ohne Tools oder Websites zusammen spielen.

6. Sei Kundschafter*in oder sende Kundschafter*innen aus!

Wer in einem Team von Menschen arbeitet, kann es ganz bewusst angehen, immer mal wieder eine Person des Teams als Kundschafterin auszuschicken. Wer allein arbeitet, muss eben Kundschafter*in für sich selbst sein. In beiden Fällen bedeutet es, Communities und somit Veranstaltungen zu besuchen, die man (noch) nicht kennt, aber die man potentiell spannend findet. Man kann beobachten und wird oft auch schnell integriert und kann mitmachen. In jedem Fall kommt man fast immer mit zahlreichen neuen Eindrücken und Ideen zurück.

7. Denke neu und anders mithilfe von Kreativitätsmethoden!

Kreativitätsmethoden sind eine wunderbare Möglichkeit, um neues Denken im Kopf anzustoßen und Bestehendes zu hinterfragen. Für einen Experimentiermodus in der Bildung lassen sie sich unter anderem in Organisationsentwicklungsprozessen, aber auch bei der Konzeption von einzelnen Lernangeboten nutzen.

Ich mag unter anderem sehr gerne die Fluchtmethode. Dabei werden die bis dato unhinterfragten Selbstverständlichkeiten negiert – und dann gefragt, was stattdessen sein könnte. Im Kontext Schule wäre das z.B: ‘Unterricht findet im Klassenraum statt’ wird zu ‘Unterricht findet nicht im Klassenraum statt’. Bei diesem Blick ist plötzlich Raum zu überlegen, welche anderen Orte es zum Lernen gibt und wie man die nutzen könnte. (Wie immer in Kreativitätsmethoden können und sollen hier auch gerne vermeintlich unsinnige und nicht realisierbare Ideen geäußert werden.)

Schön ist auch die Verbindung mit Zufalls-Bildern: Nimm eine Sammlung von Bildern, wähle eines aus und frage Dich: Was könnte ich von diesem Gegenstand für die Herausforderung lernen, vor der ich gerade stehe?

Und toll als Brainstorming-Einstieg z.B. zu Beginn einer Veranstaltungskonzeption ist, ist die ABSURD-Methode: Absurd setzt sich zusammen aus den Bestandteilen, die man sich als Fragen stellen kann:

  • Anti: Wie könnten wir es schlimm machen und scheitern?
  • Bonze: Was würden wir tun, wenn Geld keine Rolle spielen würde?
  • Superman: Was würden Held*innen tun?
  • Uralt: Wie hätten wir das vor 50 Jahren gemacht?
  • rofl (= Rolling on the Floor Laughing): Was würde man von uns in keinem Fall erwarten?
  • Dusel: Welchen Wunsch hätten wir gerne frei?

(Nachtrag: Ich habe nun wiedergefunden, woher ich diese ABSURD-Methode ursprünglich hatte. Aus dem Buch ‘Meet Up! Einfach bessere Besprechungen durch Nudging.’ Von Martin Eppler und Sebastian Kernbach.)

In Design Thinking Workshops kann man noch jede Menge weitere Kreativitätsmethoden kennenlernen. Das Prinzip ist eigentlich immer ähnlich: Sie funktionieren durch Irritation, durch Übertreibung oder durch Provokation. Und das macht nicht nur Spaß, sondern ermöglicht eben insbesondere den hier ja gesuchten Experimentiermodus.

8. Lebe eine positive Fehlerkultur vor!

Ohne eine positive Fehlerkultur ist ein Experimentiermodus schwierig, weil hierbei das Scheitern innewohnt. Deshalb ist es sehr schade, dass Fehler bei uns in der Regel negativ konnotiert sind. Als einzelne Person kann ich sicherlich nicht insgesamt die Fehlerkultur in unserer Gesellschaft bzw. im Bildungssystem ändern. Sicherlich kann ich aber immer wieder selbst eine positive Fehlerkultur vorleben. Dazu kann ich zum Beispiel von meinem eigenen Scheitern erzählen oder mich für Fehler von anderen bedanken. Mindestens im Kleinen kann ich so Raum schaffen für Erkunden und Ausprobieren.

Ich finde es außerdem auch hilfreich, das Scheitern als eine Möglichkeit gleich zu Projektbeginn anzusprechen. Im Bildungskontext sind viele Menschen zumindest auf einer theoretischen Ebene oft aufgeschlossen, dass man diese Möglichkeit aufnehmen sollte. Das macht es dann einfacher, später eventuell auch tatsächlich zu scheitern. Und auch hier kann man dann vorleben, wie man am besten aus dem Scheitern lernt.

9. Teile Konzepte, Ideen und Learnings!

Das Teilen von Konzepten, Ideen und Learnings ist aus vielen Gründen immer eine gute Idee. Unter anderem unterstützt es auch bei der Aufrechterhaltung eines Experimentiermodus. Denn erstens ist das eigene Teilen eine Einladung an andere Menschen, etwas ähnliches vielleicht auch selbst auszuprobieren. Zweitens kann man damit vorleben, dass Experimentiermodus auch Fehler machen bedeuten kann (es ist somit also eine weitere Möglichkeit, eine positive Fehlerkultur vorzuleben). Und drittens bekommt man beim Teilen sehr häufig Rückmeldungen in Form von Fragen, Kritik oder auch anderen Erfahrungen. All das sind jede Menge Möglichkeiten, um weiter zu erkunden.

10. Schaffe Dir Freiraum!

Bewusster Freiraum steht hier als letzter Punkt, auch wenn es eigentlich die Grundlage für alles andere ist. Denn ohne Freiraum fehlt die Kraft, um immer wieder neu zu lernen, nach Inspirationen zu suchen und zu erkunden. Es fehlt die Zeit, um Inspirationen für sich zu sortieren. Und es fehlt auch an Abstand, um Prioritäten für sich festzulegen und wieder mit einem neuen Blick auf die eigenen Vorhaben zu blicken.

Sich selbst Freiraum zu schaffen, klingt einfach, aber ist schwer. Als Freiberuflerin scheitere ich oft daran, weil ich zu tief in Projekten drinstecke und mir in der Folge zu wenig freie Zeit nehme. Mir hilft es, wenn ich mir immer wieder vor Augen führe, dass ich Freiraum brauche. Und vor allem auch, dass ich nach Freiraum-Zeiten immer wieder die Erfahrung mache, dass plötzlich vieles wieder sehr viel besser klappt.

Und Du?

Das waren 10 Vorschläge von mir, was einzelne tun können, um für sich einen fortgesetzten Experimentiermodus in der Bildung zu leben und ein Rollenverständnis von Pädagog*innen als lernende Lehrende zu praktizieren. Ich freue mich darüber, auch von Deinen Ansätzen zu lesen. Kommentare gerne unter diesem Tweet.


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