Heute war am Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung (LISA) in Halle an der Saale das Auftakttreffen für ein wissenschaftliches Begleitnetzwerk im Projekt Lernwelt Sachsen-Anhalt. Ich war Teil der Runde, fand die Diskussion sehr anregend und möchte hier über das Treffen gerne schreiben. Erstens um meine eigenen Gedanken dazu zu sortieren und damit gleich ein bisschen das erfragte Feedback an die einladenden Projektverantwortlichen zu geben. Zweitens und vor allem aber auch, weil die Lernwelt Sachsen-Anhalt aus meiner Sicht ein sehr vielversprechendes Projekt im Kontext von Bildung und Digitalität ist, welches deshalb vielleicht auch für andere Akteur*innen spannend sein kann.
Was ist die Lernwelt Sachsen-Anhalt?
Ausführlich kann man sich über das Projekt auf dieser Website informieren. Zielgruppe dieser Website sind vor allem Lehrkräfte, die mit dem Versprechen von Arbeitserleichterung angesprochen werden. Auf diesen Ansatz komme ich später zurück. Für mich stehen die deutlich spannenderen Ansätze der Lernwelt weiter unten auf der Website. Dort erfährt man, dass mit dem Projekt insbesondere diese Ziele verfolgt werden:
Die Lernwelt soll Lernen ermöglichen
- da, wo/wie es jetzt nicht möglich ist.
- da, wo/wie es jetzt noch besser möglich sein könnte.
- da, wo/wie es in Zukunft notwendig sein wird.
Ich mag an dem Projekt vor allem, dass es konsequent aus der Perspektive des Lernens gedacht werden soll. Sehr gut wird das an der folgenden Folie aus der heutigen Vorstellung des Projekts deutlich:

Zur Erläuterung: Es gibt bei Bildung im Kontext der Digitalisierung sehr viele unterschiedliche Ebenen zu berücksichtigen. Angefangen beim Personal, der technischen Infrastruktur und den Lernorten, über Haltung und Inhalte bis hin zu Lernzielen und Nachweisen. Anstatt nur einzelne dieser Bereiche zu adressieren oder sie irgendwie zusammen zu bringen, versucht die Lernwelt sie aus der Perspektive von Lernen zusammenzubringen und in einer Kultur der Digitalität neu oder weiter zu denken.
Die Lernwelt Sachsen-Anhalt wird dabei bewusst als Entwicklungsprojekt verstanden. Das bedeutet: Es ist auf politisch-struktureller Ebene natürlich erst einmal ’nur‘ ein Projekt mit begrenzter Laufzeit und Budget. Zugleich hat es aber den Anspruch, die Bildung nachhaltig zu transformieren. Zum Hintergrund ist hier noch wichtig, dass in Sachsen-Anhalt, wie ja auch in vielen anderen Bundesländer, leider nicht aus einer Situation des personellen Überflusses gestaltet werden kann, sondern Lösungen gefragt sind, um dem – insbesondere in der Fläche – häufig eklatanten Lehrkräftemangel zu begegnen. Sehr stimmig finde ich hier den Ansatz des Projekts, dass diese Lücke quasi nebenbei zu schließen versucht wird, das eigentliche Ziel aber ein verändertes Lernen ist.
Um das zu realisieren besteht die Lernwelt Sachsen-Anhalt aus mehreren Teilprojekten. Insbesondere soll Lernen in unterschiedlichen Settings wie Barcamps, Hackathons oder agilen Lernformaten erprobt werden. Es gibt stationäre und mobile Lernlabore, die von den Schulen als ‚Rundum-Sorglos-Paket‘ bestellt werden können. Es gibt mehrere Personen, die als Digitalassistenz arbeiten und Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler beim Einsatz unterstützen. Schließlich gibt es den großen Bereich des Online-Lernens, in dem Online-Basics von Lehrkräften instruiert werden, zu denen Schülerinnen und Schüler dann – unter pädagogischer Begleitung – in Lernbüros weiter arbeiten können.

In der Lernwelt ist es ein Ziel ‚personalisiertes und selbstgesteuertes Lernen in Gemeinschaft‘ voranzubringen. Das mag ich sehr gerne als Formulierung, weil eben gerade nicht von Individualisierung die Rede ist, was aus meiner Sicht nicht der Kern guter Bildung sein kann, weil es immer auch um das gemeinschaftliche Lernen gehen muss. Diese Formulierung werde ich mir deshalb merken und gerne weiternutzen.
Die Lernwelt Sachsen-Anhalt ist zunächst auf den MINT-Bereich an Sekundarschulen fokussiert. Da mit dieser Orientierung an den beteiligten Schulen aber direkt Änderungen im Bereich der Organisation von Lernen vorangebracht werden, kann dieser Bereich dann durchaus auch Veränderungen in der Schule insgesamt anstoßen.
Weiterdenken und Hinterfragen
Ich finde es immer eine große Stärke in Projekten, wenn die verantwortlichen Menschen ganz bewusst sagen: Lasst uns da auch Expertise von außen dazu holen, die uns vielleicht auf blinde Flecken oder Fehler aufmerksam machen und in jedem Fall mit uns gemeinsam weiter denken wollen! Vor diesem Hintergrund bin ich der heutigen Einladung zum wissenschaftlichen Begleitnetzwerk auch sehr gerne gefolgt – und möchte einige Aspekte, die mir besonders wichtig sind oder auch die mir in der gemeinsamen Diskussion klarer geworden sind, im Folgenden für mich, für das Projekt und vielleicht ja auch für andere Interessierte notieren. Ich mache das sehr fragend, wohlwissend, dass vieles vielleicht ohnehin auch schon in diese Richtung überlegt wird und in der festen Überzeugung, dass ‚lautes Nachdenken‘ weiterbringend sein kann. Vielen Dank für die anderen Beteiligten im Netzwerk für die sehr offene, konstruktive und perspektivenreiche Diskussion.
1. Offenheit als Nordstern
Eines der Teilprojekte in der Lernwelt ist die Bereitstellung von Lernsoftware für die beteiligten Schulen. Der Anspruch ist hier, dass diese Angebote sowohl für Lernende und auch für Lehrende möglichst niederschwellig funktionieren sollen. Bei dieser Lernsoftware handelt es sich zum Teil um landeseigene Dienste des Bildungsservers oder den Zugang zu Fachzeitschriften. Zum anderen Teil wird über den Kauf von Lizenzen ein kostenfreier Zugang zu proprietärer Lernsoftware eingekauft. Ich kann diese Herangehensweise gerade vor dem Hintergrund der Niederschwelligkeit gut verstehen. Aus der Perspektive von Nachhaltigkeit finde ich es aber zugleich wichtig, sich vielleicht noch ein bisschen mehr am Nordstern von Offenheit zu orientieren. Anstelle also Lizenzkosten für den Zugang zu proprietärer Lernsoftware auszugeben, könnten diese Gelder auch in die Entwicklung von offenen Angeboten investiert werden. Man würde damit dem Grundsatz der Open Education Bewegung folgen: Öffentliches Geld – öffentliches Gut!
2. Konzept von Unterricht hinterfragen
Wir haben heute wahrscheinlich am längsten über das Teilprojekt des Online-Lernens gesprochen. Sehr gut gelungen ist im Projekt aus meiner Sicht hier schon der Ansatz, dass selbstorganisiert mithilfe von unterschiedlichen Materialien und Software gelernt werden kann und zugleich immer auch beziehungsgeleitet pädagogische Unterstützung, Reflexion und Begleitung sichergestellt sein soll. Zu kurz gedacht finde ich bis jetzt noch die Idee von Online-Impulsen, die von Lehrkräften synchron gestaltet werden und bei denen (so habe ich es zumindest verstanden) die Wissensvermittlung im Vordergrund steht. Mir scheint hier sehr vom bisherigen Konzept von Unterricht ausgegangen zu werden. Gerade die reine Wissensvermittlung könnte aber ja vielleicht auch mit aufgezeichneten Impulsen, also einer Art ‚flipped‘-Variante erfolgen. Auch um dann während eines Online-Impulses deutlich mehr Raum für Interaktion und beziehungsgeleitetes Lernen zu haben. Hier könnte vielleicht auch gezielt Raum sein, um das Lernen selbst als Lernherausforderung in den Blick zu nehmen. Also zum Beispiel solche Fragen gemeinsam zu bearbeiten: Wie schaue ich mir ein Erklärvideo am besten an, so dass ich möglichst viel davon mitnehmen kann? Wie formuliere ich in einer Lernberatung gute Fragen, die mich weiterbringen? Wie nutze ich, die mir (hoffentlich) zur Verfügung stehenden Learning Analytics aus meinem bisherigen Lernen, um in Zukunft möglichst gut weiter zu kommen? …
(In der Kaffeepause entstand hier noch die weitere Idee, dass es das Format von Online-Impulsen vielleicht auch gezielt ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Regionen in Sachsen-Anhalt miteinander in Austausch kommen, was in einem Bundesland wie Sachsen-Anhalt mit zum Teil großen Unterschieden zwischen den Städten und der Fläche ein schönes, verbindendes und zuhörendes Element auch über den Bereich Schule hinaus sein könnte.)
3. Lernziel: Selbststeuerung
Im Projekt der Lernwelt ist es ein großes Anliegen, selbstgesteuertes Lernen zu fördern und zu unterstützen. Diese Perspektive ist also immer auch mit ein Lernziel. Mir ist zu diesem Punkt nachträglich noch eingefallen, dass dieser Aspekt auch bei der Evaluation des Projekts ganz entscheidend ist. Es sollte dann also nicht nur vergleichend darum gehen, ob Lernende im Setting der Lernwelt die jeweiligen Basis-Kompetenzen besser erwerben, als in einem traditionellen Setting. Vielmehr scheint mir mindestens auch die Frage wichtig, inwieweit das neue Lernsetting Lernende darauf vorbereitet, zukünftig besser selbstgesteuert lernen zu können. Die grundsätzliche Frage wäre für mich dann vor allem: Werden Lernende durch das Projekt kompetenter im Lernen? Und eben weniger: Lernen Lernende die vermittelten Kompetenzen besser oder schlechter? Diese Wirkung zu erforschen, ist sicherlich gleichermaßen komplex wie lohnend auch für andere Bildungsprojekte.
4. Arbeitsentlastung versus pädagogisches Wachstum
Einleitend bin ich beim Verweis auf das Projekt bereits auf die bisherige Öffentlichkeitsarbeit und insbesondere die Ansprache von Lehrkräften eingegangen. Wie geschrieben steht hierbei bislang meinem Eindruck nach die Arbeitsentlastung von Lehrkräften im Fokus.
Ich habe mich bei dieser Darstellung an meine Lektüre von Seymour Paperts Buch ‚The children’s machine‘ erinnert, der sich darin schon vor vielen Jahren, als die ersten Computer Einzug in die Schulen hielten, sehr vehement dagegen aussprach, die Nutzung dieser Technologie für Lehrkräfte möglichst einfach zu machen. Sein Ziel war natürlich nicht, Lehrkräfte zu ärgern oder ihnen das Leben unnötig schwer zu machen. Er argumentierte stattdessen, dass es für ihn keine wünschenswerte pädagogische Perspektive ist, dass Lehrkräfte zu ‚Maschinen-Bedienern‘ werden, also sinngemäß den Einschaltknopf drücken oder (damals in den 80er/90er Jahren) die Diskette oder CD-ROM für Lernende einlegen. Stattdessen schlug er bewusstes und unterstütztes Wachstum der Lehrenden vor. Wenn sie – in der Rolle als Lernende – die neue Technologie erschließen, dann sind sie nicht nur die besten Vorbilder für Lernende, weil sie eine technisch mündige Haltung vorleben, sondern können dann auch ihre eigenen Lernerfahrungen reflektieren und auf diese Weise umso besser pädagogisch tätig sein.
Ich kann natürlich sehr gut nachvollziehen, dass solch eine Perspektive in einer Situation der kontinuierlichen Überforderung, weil man permanent mit neuen Anforderungen konfrontiert ist, nicht sehr attraktiv wirkt. Trotzdem will ich hier gerne optimistisch bleiben, dass es möglich und lohnend ist, sich diese Perspektive als Nordstern zu setzen.
Eine vielleicht denkbare ‚Sowohl als auch‘ Position könnte hier sein, dass die Arbeitserleichterung Lehrkräften endlich den dringend benötigten Freiraum für solch ein erwünschtes, pädagogisches Wachstum bietet.
5. Raum für Zufälligkeit und Chaos
Der letzte Punkt ist etwas, das mich nicht nur in diesem Projekt, sondern insgesamt im Kontext von Digitalisierung in der Bildung und insbesondere im Bereich von Künstlicher Intelligenz mehr und mehr umtreibt. Es handelt sich hier um die Rolle von Zufälligkeit und Chaos für das Lernen. Denn je adaptiver Bildung gestaltet ist, desto passgenauer und damit weniger chaotisch und zufällig wird sie. Lernende erhalten also immer genau die Rückmeldungen und Unterstützung, die sie für einen optimalen Lernprozess brauchen. Dem steht aber entgegen, dass Lernen zu großen Teilen eben gerade kein klarer, eindeutiger Prozess ist, sondern in sehr vielen Bereichen vage und chaotisch ist. Umwege und Irrtümer und auch Leerläufe und Zufälle sind in dieser Sichtweise dann nicht Ausdruck von Ineffizienz, sondern wesentliche Voraussetzung bzw. unerlässlicher Bestandteil von gutem Lernen.
Ich habe nun auch keine Antwort darauf, wie man solch eine Zufälligkeit und Chaos in einem Projekt, das ja vor allem auch auf effizienteres Lernen zielt, integrieren kann. Es lohnt sich aber aus meiner Sicht, darüber nachzudenken.
(Zum Weiterlesen empfehle ich hier meine Übertragung der Geschichte ‚Adler steigen keine Treppen‘ des französischen Reformpädagogen Célestin Freinet in die Zeit von Künstlicher Intelligenz in der Bildung.)
Fazit und Danke
Wie eingangs beschrieben gehört das Projekt Lernwelt Sachsen-Anhalt für mich bundesweit zu einem der sehr spannenden, aktuellen Transformationsprojekte. Vielen Dank, dass ich daran heute ein bisschen mitdenken konnte. Ich bin gespannt auf die weitere Entwicklung – und auch darauf, auf welche Resonanz das Projekt bei anderen Bildungsakteuren stößt.
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Eine Antwort
Vielen Dank @nele@ebildungslabor.de @nele@fedilab.de für den ganzheitlichen Blick auf das Projekt und die Sicht „von außen“, auch wenn du ja mitten drin bist in der Bildung. Das bereichert die Perspektive „aus dem Maschinenraum“ Lehrerzimmer. Ich bin jedenfalls gespannt wie die Lernwelt sich weiterentwickelt, da stecken viele gute Gedanken drin.