Den heutigen Samstag habe ich in Rostock verbracht, genauer gesagt: bei der EuSiB. EuSiB steht für Europäische Stiftung für innovative Bildung. Unter ihrem Dach vereint sie mehrere Bildungseinrichtungen – von der Krippe über die Grundschule, den Zirkus, weiterführende Schulen bis hin zum Pädagogischen Kolleg. Der Anlass meines Besuchs war der heutige EuSiB-Tag, an dem alle Beschäftigten in den unterschiedlichen Bildungseinrichtungen zusammenkommen und gemeinsam lernen. Er findet alle zwei Jahre statt.
Ich blogge über meinen Besuch aus drei Gründen:
- Das Thema des diesjährigen EuSiB-Tages war „Pädagogische Haltung“. Ich habe zu diesem Thema sowohl bei der Vorbereitung als auch heute im Austausch einiges gelernt. Ich bin davon überzeugt, dass es ein sehr zentrales und grundlegendes Thema ist, das in der pädagogischen Diskussion mehr Raum zur Reflexion bräuchte. Dafür möchte ich mit dem folgenden Beitrag gerne ein bisschen werben.
- Meine Rolle bestand in der konzeptionellen Mitgestaltung des Tages. Ich habe mich mit dem Vorbereitungsteam mehrmals im Vorfeld getroffen, und wir haben überlegt, wie wir den Tag methodisch gestalten und aufbauen können. (Das war vor allem deshalb herausfordernd, weil die Teilnehmenden explizit viel Input gewünscht hatten und wir das natürlich trotzdem mit offenen und selbstgesteuertem Lernen zusammen bringen wollten.) Das Konzept, das wir heute genutzt haben, halte ich für sehr gelungen. Mit meiner Dokumentation will ich ermöglichen, dass andere es weiter nutzen können.
- Ich kannte die EuSiB vor diesem Projekt noch nicht und nutze den Blogbeitrag auch dazu, um den Kolleg*innen virtuell zuzuwinken und mich für die sehr inspirierende Zusammenarbeit zu bedanken. Für alle, die diesen Text lesen, die EuSiB auch noch nicht kennen und sich gerne mit spannenden Bildungsakteur*innen vernetzen möchten, kann dies vielleicht ebenfalls ein Anstoß dazu sein. Auf der Website eusib.de gibt es ausführliche Informationen zum heutigen EuSiB-Tag und zur EuSiB selbst.
Damit aber genug der Vorrede. Los geht es mit meinem Bericht zum heutigen Tag. Ich erzähle dabei einfach chronologisch, was wir gemacht und gelernt haben und wie wir dabei vorgegangen sind.
1. Ankommen und Einstieg im Plenum
Damit alle sich gut einfinden und es schon vorab zu ersten Gesprächen und Austausch kommen konnte, gab es eine großzügige Ankommenszeit von einer Stunde mit Kaffee, Obst und Kuchen. Anschließend begrüßte die Leitung des Pädagogischen Kollegs, an dem die Veranstaltung stattfand, und der Vorstand der EuSiB führte in das Thema ein. Danach übernahm die Vorbereitungsgruppe, stellte vor, was die Kolleg*innen am Tag erwartete, und sorgte mit einem ersten „Winkgewusel“ für Orientierung. Dazu wurden Fragen gestellt wie: „Wer ist zum ersten Mal bei einem EuSiB-Tag?“ oder „Wer kommt von Bildungseinrichtung XY?“ oder „Wer gehört zum nicht-pädagogischen Personal?“ … Wenn die Frage zutraf, reagierte man mit Winken. Mit dieser schnellen Sichtbarmachung waren alle gut angekommen, orientiert und voller Vorfreude auf den weiteren Tag.
2. Parcours der guten Haltungen
Unsere Einschätzung im Vorfeld war, dass viele Kolleg*innen mit dem Begriff der (pädagogischen) Haltung zunächst wahrscheinlich nicht viel anfangen können bzw. unsicher sind, wie sie sich dazu äußern sollen. Deshalb wollten wir eine sehr niederschwellige Möglichkeit für eine erste Annäherung und vor allem auch einen Austausch untereinander bieten. Das Format, das wir hierfür entwickelt haben, nannten wir „Parcours“. Es ähnelt ein bisschen einem Stuhltanz, zumindest insofern, dass es mehrere Stühle gibt, Musik gespielt wird, sich alle durch den Raum bewegen und wenn die Musik stoppt, man sich zu einem Stuhl begeben muss. Damit sind die Gemeinsamkeiten zum Stuhltanz aber schon erschöpft. Denn erstens sollten sich an jedem Stuhl immer mehrere Leute treffen. Zweitens schied niemand aus, sondern auf dem Stuhl lag ein Zettel mit einer Herausforderung zum Thema Haltung, die man gemeinsam angehen sollte. Die Herausforderungen waren teilweise etwas zum Machen (Beispiel: Haltung auch körperlich zeigen und etwas balancieren oder pantomimisch vorspielen), zum Erzählen (Beispiel: In welchen Momenten in deinem beruflichen Alltag bist du dir unsicher, wie du dich verhalten sollst?) oder zur Reflexion (Beispiel: Wo „wohnt“ deine pädagogische Haltung, wie sieht sie aus?). Die Runden zur Bewältigung der Herausforderungen dauerten immer nur ein paar Minuten. Dann setzte wieder Musik ein, die Kolleg*innen konnten sich wieder bewegen, neu mischen und zur nächsten Herausforderung zusammenfinden.
Nach einer Dreiviertelstunde hatten alle ein erstes Bild zum Thema pädagogische Haltung und waren mit vielen anderen Kolleg*innen ins Gespräch gekommen.
3. Input und Übung zu den Reckahner Reflexionen
Nach dem sehr interaktiven Einstieg war eigentlich ein Input von Annedore Prengel im Plenum geplant, die aber wegen Krankheit nicht teilnehmen konnte. Als Alternative wurde ein Video mit ihr geschnitten und gezeigt, in dem sie die sogenannten Reckahner Reflexionen vorstellt.
Die Reckahner Reflexionen sind zehn Leitlinien, die als Orientierung für gute Beziehungen in pädagogischen Settings dienen können. Sie wurden über mehrere Jahre von einem Kreis engagierter Pädagog*innen aus der Menschenrechtsbildung erarbeitet und von Annedore Prengel initiiert. Mein Eindruck war, dass die Leitlinien zunächst sehr unspektakulär und fast schon selbstverständlich wirken. Wenn man jedoch darüber reflektiert und vor allem miteinander ins Gespräch kommt, merkt man schnell, wie viel darin steckt und wie hilfreich sie zur Orientierung sein können.
Ich dokumentiere die Reckahner Reflexionen hier als H5P-Inhalt, sodass du sie auch gut weiterverwenden und z. B. anderswo einbetten und verbreiten kannst:
Im Video-Impuls wies Annedore Prengel darauf hin, dass in empirischen Untersuchungen, die im Kontext der Erarbeitung durchgeführt wurden, herauskam, dass rund 25 Prozent aller pädagogischen Interaktionen (zwischen erwachsenen Lehrenden und jüngeren Lernenden) nicht den Reckahner Reflexionen entsprechen, weil sie entweder lediglich neutral oder sogar negativ für die pädagogischen Beziehungen einzuordnen sind. Besonders besorgniserregend ist, dass diese Interaktionen oft nicht zufällig oder aus der Not heraus passieren (z. B. aus Zeitmangel oder aufgrund gelegentlicher Fehler), sondern dass sie z. B. bei Hospitationen bewusst so vorgeführt werden. Die Lehrpersonen scheinen also davon überzeugt zu sein, dass sie mit der Missachtung der Reckahner Reflexionen gut und richtig handeln.
Aus Sicht von Annedore Prengel könnten drei Aspekte hier helfen:
- Das Thema pädagogische Beziehungen und Haltung sollte immer wieder und auch schon in der pädagogischen Ausbildung, thematisiert werden.
- Es sollte eine gute und konstruktive Feedback-Kultur im Kollegium etabliert werden. Man muss sich gegenseitig sagen können, wenn man denkt, dass sich ein*e Kolleg*in falsch verhält.
- Es sollte mehr „Kunstfehlerlehre“ in der Pädagogik etabliert werden, d. h. dazu forschen, welche typischen und häufigen Fehler im Kontext von pädagogischen Beziehungen gemacht werden und wie man damit umgehen kann.
Neben dem wertvollen Input fand ich es bemerkenswert, wie gut und resonanzreich der Video-Impuls funktionierte. Das hätte ich so nicht erwartet.
Anschließend bildeten wir Kleingruppen, um uns vertiefter mit den Reckahner Reflexionen auseinanderzusetzen. Jede Gruppe erhielt dazu als Material mehrere Karten, auf denen typische und fiktive pädagogische Beziehungssituationen geschildert wurden. Die Aufgabe war, zu überlegen, welche der zehn Leitlinien in der jeweiligen Situation beobachtet werden kann.
Das funktionierte ziemlich gut. Im Ergebnis hatten zumindest in meiner Gruppe alle Beteiligten ein gutes Verständnis der Leitlinien.
4. Input von Katrin Halfmann und anschließende Fragerunde
Nach einer Kaffeepause gab es einen zweiten Input, diesmal von Katrin Halfmann, die vor Ort war. Sie fokussierte sich auf die Frage der praktischen Umsetzung: „Wie komme ich zu einer guten pädagogischen Haltung?“
Besonders prägnant fand ich ihre Aussage, dass es in herausfordernden Situationen normal ist, den Impuls zu spüren, einer spontanen Erstreaktion zu folgen. Wenn also z. B. ein Kind auf einen freundlichen „Guten Morgen“-Gruß reagiert, indem es einem entgegen schleudert, man solle sich „verpissen“, dann wird die Erstreaktion wahrscheinlich sein, dass man verletzt, verärgert oder überrumpelt ist und das Kind direkt maßregeln möchte. Für eine gute pädagogische Haltung und die Möglichkeit eines Beziehungsaufbaus zum Kind ist es jedoch hilfreicher, erst einmal durchzuatmen und sich zu fragen: Was ist der Hintergrund dieser Situation? Warum agiert das Kind so? Und zweitens: Was braucht das Kind in dieser Situation bzw. was will es uns mitteilen? Mit diesen Überlegungen ist eine reflektierte, pädagogische Reaktion möglich, die den Teufelskreis von Störungen und Maßregelungen durchbricht.
Katrin Halfmann arbeitet hierfür viel mit dem Bild eines „inneren Teams“. In herausfordernden Situationen melden sich verschiedene innere Stimmen zu Wort, und es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, um auch die Stimmen zu hören, die nicht der spontanen Erstreaktion folgen. Dabei muss man stets die Balance zwischen Engagement für das Kind und Selbstschutz finden.
Nach einer Fragerunde zu diesem Input folgte eine ausführliche Mittagspause.
5. Lerngewusel
Nach dem inhaltsreichen Vormittag war der Nachmittag mit einem sogenannten „Lerngewusel“ offener gestaltet. Hier konnte man zwischen Workshops, Gesprächsrunden oder dem individuellen Stöbern in Büchern und Materialien zum Thema wählen oder sich auch am Lagerfeuer austauschen. Besonders gelungen fand ich, dass auch Bündnispartner*innen außerhalb der Institutionen für Angebote angefragt wurden. Auch ich habe so z. B. eine Gesprächsrunde zu „Haltung und Digitalisierung“ angeboten (dazu schreibe ich in einem extra Blogbeitrag, da ich es sehr spannend fand). Weitere Angebote kamen von „Endstation Rechts“ oder dem „Ökohaus Rostock“. So wurde das Thema „Pädagogische Haltung“ sehr breit gefächert und Verbindungen zu Themen wie Demokratiebildung, Nachhaltigkeit oder Digitalisierung hergestellt.
Die Lerngewusel-Angebote waren teils fortlaufend, teils nur eine halbe Stunde lang oder über die gesamten 1,5 Stunden. So war es gleichermaßen herausfordernd wie bereichernd, aus der Fülle der Möglichkeiten ein Programm zusammenzustellen.
6. Abschluss im Plenum und Ausschwingen
Am Nachmittag kamen alle noch einmal im Plenum für einen gemeinsamen Abschluss zusammen. Ursprünglich hatten wir überlegt, hier noch eine längere, gemeinsame Reflexion mit Ausblick zu machen, aber unsere Einschätzung, dass nach so viel Input ein kürzeres Format besser wäre, stellte sich als richtig heraus. So beschränkten wir uns auf ein kurzes „Silent Writing“, bei dem alle für sich relevante Aspekte notieren konnten, die sie mitnehmen wollten. Anschließend konnte man sich darüber in kleinen Gesprächsrunden austauschen. Den Abschluss bildete ein weiteres „Winkgewusel“, diesmal mit Fragen zum Tag, was zugleich eine Brücke zum Einstieg schlug.
Nach dem offiziellen Programm blieb noch Zeit für ein gemeinsames „Ausschwingen“ mit Kaffee, Kuchen und Kaltgetränken. 🙂
Fazit
Ich fahre sehr erfüllt von meinem Besuch in Rostock nach Hause. Vielen Dank an alle Beteiligten! Für dich kann der Blogbeitrag vielleicht ein Anstoß sein, das Thema „Pädagogische Haltung“ auch in deinem Kollegium anzuregen. Und/oder du kannst unseren Lernparcours oder das Lerngewusel als methodische Ideen mitnehmen, die sich sicherlich auch gut auf andere Kontexte übertragen lassen.
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