Denkanstoß: ein dreifach anderer Blick auf Technologie

Dieser Blogbeitrag ist als Denkanstoß gedacht. In drei Bereichen stelle ich dar, wie ich häufig erlebe, dass in der Bildung (auch von mir) auf Technologie – und aktuell insbesondere auf KI – geblickt wird. Anschließend zeige ich jeweils eine alternative Perspektive auf. Dabei möchte ich nicht behaupten, dass eine dieser Sichtweisen richtiger oder besser ist. Mir geht es vielmehr darum, meine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen und nicht ausschließlich an der ersten oder der (wahrscheinlich) mehrheitlich geteilten und kommunizierten Perspektive festzuhalten. Denn indem wir unser Denken durch verschiedene Blickwinkel erweitern, können wir gezielter nach guten pädagogischen Lösungen suchen – vor allem, weil sich dadurch oft ganz neue Fragen und Herausforderungen ergeben.

Perspektivenerweiterung 1: Wird mir etwas weggenommen oder erhalte ich neue Möglichkeiten?

Ich war gerade einkaufen und habe an einer Selbstbedienungskasse bezahlt. In unserer beschaulichen Stadt Halle sind diese Kassen noch nicht weit verbreitet, sondern werden gerade erst in einzelnen Supermärkten erprobt. Diese Entwicklung kann ich nun aus zwei Perspektiven betrachten:

  1. Ich kann mich darüber ärgern, dass es nun Selbstbedienungskassen gibt. Früher hat eine Kassiererin meine Einkäufe gescannt, jetzt muss ich das selbst tun!
  2. Ich kann mich darüber freuen, dass ich meine Einkäufe nun in meinem eigenen Tempo und in meiner gewünschten Reihenfolge scannen und dabei in Ruhe einpacken kann.

Im ersten Fall empfinde ich die Technologie als Verlust, im zweiten Fall als Gewinn.

Übertragen auf die Bildung können wir Technologie – und speziell KI – ebenfalls aus zwei Blickwinkeln betrachten:

  • Erstens können wir befürchten, dass Lernenden etwas weggenommen wird. Früher wurden sie von menschlichen Lehrkräften begleitet, jetzt werden sie mit einer Maschine abgespeist.
  • Zweitens können wir aber auch so darauf blicken, dass Lernende viele Möglichkeiten zu selbstbestimmtem Lernen erhalten. Sie können gezielt ihre Fragen stellen, sich ohne Scheu etwas zum hundertsten Mal erklären lassen und jederzeit in ein anderes Thema eintauchen.

Diese Perspektivenerweiterung ist deshalb spannend, weil sie den Blick auf (vielleicht) wichtigere Fragen lenkt, die wir ansonsten gar nicht in den Blick genommen hätten:

  • Wie stellen wir sicher, dass alle einen qualitativ hochwertigen Zugang zu Technologie erhalten?
  • Wie ermöglichen wir es allen Lernenden – auch weniger motivierten oder weniger leistungsstarken – diese Technologie sinnvoll zu nutzen?
  • Wie gestalten wir gutes Lernen auch für diejenigen, für die das Lernen mit Technologie (aus welchen Gründen auch immer) nicht als gewinnbringend erscheint oder die dazu nicht die Möglichkeiten haben?

Hinzu kommt – wie bei der Selbstbedienungskasse – natürlich auch die Frage: Wie kann sich die Arbeit der Kassiererin beziehungsweise im Bildungsbereich die Arbeit der Pädagogin verändern, sodass sie weiterhin gute oder sogar noch bessere Arbeitsbedingungen hat, wenn Technologie eine zunehmend größere Rolle spielt?

Perspektivenerweiterung 2: Werden mir meine Daten geklaut oder kann ich meine Daten für mein Lernen nutzen?

Ich gestalte zurzeit eine mehrteilige Fortbildung zu TikTok. In einer Austauschrunde berichtete eine Teilnehmerin von ihrer eigenen TikTok-Praxis. Kurz zusammengefasst: Sie nutzt TikTok sehr viel und sehr gerne!

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ihre Reaktion auf die Frage eines anderen Teilnehmers, der sinngemäß wissen wollte, ob es denn möglich sei, all die Daten, die über sie auf TikTok gespeichert sind, wieder zu löschen. Ihre Antwort war deutlich: Sie war entsetzt und meinte: „Warum sollte ich das wollen? Es war super viel Arbeit, den TikTok-Algorithmus so zu trainieren, dass ich immer eine coole und für mich passende ‚For You‘-Page habe. Würde ich meine Daten alle löschen, müsste ich ja wieder komplett von vorne anfangen!“

Auch beim digitalen Lernen werden potenziell große Mengen an Daten generiert. Zum Beispiel kann festgehalten werden, wie lange Lernende sich ein Video anschauen, ob und wie sie sich mit einem Lerninhalt beschäftigen, wie sie auf gestellte Fragen antworten und wann sowie wovon sie sich ablenken lassen. Im Kontext von KI kann potenziell jeder einzelne Chat mit einem KI-Sprachmodell gespeichert und analysiert werden.

Der vorherrschende Blick darauf ist – überspitzt formuliert: „Das ist eine potenziell gefährliche Überwachung!“ Ein anderer Blick könnte aber – aus Lernenden-Perspektive – sein: „Cool, dass ich so viele Daten generiere. Die kann ich wunderbar für mein Lernen nutzen!“

Wie im ersten Fall haben wir es auch hier mit einer Gegenüberstellung zu tun: Sehe ich Technologie eher als bedrohlich und versuche, mich dagegen zu schützen, oder erkenne ich in ihr ein emanzipatorisches Potenzial für mich?

Diese Perspektivenerweiterung gefällt mir besonders, weil sich daraus eine zentrale Forderung ableiten lässt, wenn die emanzipatorische Perspektive funktionieren soll:

Die Daten, die Lernende beim Lernen generieren, müssen ihnen selbst gehören, und sie müssen selbst entscheiden können, ob und wie sie diese für ihr Lernen nutzen möchten!

Zugegeben, aus der aktuellen Perspektive heraus ist das eher ein „Wünsch dir was“ als eine realistische Umsetzungsperspektive für die nächsten Monate. Doch wenn man sich für diese Sichtweise entscheidet, hat man eine klare Forderung, für die man sich gemeinsam mit anderen einsetzen kann.

Perspektivenerweiterung 3: Bringe ich (ungewollt) Produkte für die anbietenden Unternehmen voran oder mache ich Technologie für uns alle besser?

Eine häufig gestellte Frage in KI-Workshops ist: „Kann ich irgendwie verhindern, dass ich für die anbietenden Unternehmen kostenfrei ihre KI-Modelle trainiere?“ Diese Frage ist sicherlich berechtigt und gut nachvollziehbar. Denn bei proprietären Modellen kann jede Interaktion genutzt werden, um das jeweilige Modell weiterzuentwickeln und anzupassen.

In einem meiner letzten Workshops gab es auf diese Frage eine direkte Erwiderung aus der Teilnehmenden-Runde. Eine Kollegin meinte sinngemäß: „Was hast du denn dagegen? Es ist doch super, dass die Modelle auf diese Weise kontinuierlich besser werden. Vor zwei Jahren konnte ich mit KI noch längst nicht so viel anfangen wie heute.“

Diese beiden Äußerungen bringen sehr gut die beiden gegensätzlichen Perspektiven auf den Punkt, um die es mir hier im dritten und letzten Punkt geht:

  1. Ich kann mich ausgebeutet fühlen, weil ich mit meiner Technologie-Interaktion dazu beitrage, dass die anbietenden Unternehmen ihr Produkt verbessern und ihre Gewinne steigern können.
  2. Ich kann mich darüber freuen, dass auch meine Interaktionen einfließen, um die Technologie für alle Nutzenden gewinnbringender zu machen.

Auch aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich eine spannende und aus meiner Sicht wichtige Folgeforderung: eine gemeinwohlorientierte KI in öffentlicher Verantwortung! Denn wahrscheinlich hätten deutlich weniger Menschen etwas dagegen, eine KI mit ihren Interaktionen zu trainieren, wenn diese KI uns allen gehören würde – und nicht einem Unternehmen, das die Regeln und den Zugang jederzeit einschränken, verändern oder deutlich teurer gestalten kann.

Fazit: Weiterdenken!

Das waren drei Perspektiven plus mögliche Erweiterungen, die für mich im Kontext von Technologie in der Bildung und speziell in der KI-Debatte besonders klar auf dem Tisch liegen. Ich finde es in Reflexionen zu KI hilfreich, diese erweiterten Perspektiven einzubringen. Ich erlebe dann immer wieder, dass sich die Diskussion weg von einer Abwehrhaltung hin zu Fragen nach Gestaltungsmöglichkeiten bewegt.

Ich kann mich darin dann oft deutlich besser wiederfinden. Denn gerade weil ich viele berechtigte Kritikpunkte an der aktuellen Entwicklung von KI-Modellen, den dahinterliegenden nicht gemeinwohlorientierten Interessen und den daraus entstehenden Schäden teile, finde ich die technologischen Möglichkeiten zugleich immer wieder sehr faszinierend. Wenn wir deshalb eine bessere Bildung wollen, sollten wir weniger gegen Technologie arbeiten, sondern uns mehr für alternative, offene und gemeinwohlorientierte Formen von Technologie und deren Nutzung im Bildungskontext einsetzen.

Zum (schlechten) Prompt ‚Learning Analytics‘ generierte mir Midjourney dieses, wie ich finde, doch recht passende Bild.


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