Buchnotizen: Wider die Verrohung

Ich habe das Buch ‚Wider die Verrohung‘ von Ingrid Brodnig gelesen und kann es sehr weiter empfehlen. Für mich war es Teil meiner Vorbereitung des morgigen (= 13. Juni 2025) Panels zu Populismus, Desinformation und Manipulation – organisiert von der Wikimedia – zu dem man sich spontan auch online zum Livestream dazu schalten kann. Ich werde das Panel moderieren. Aber auch unabhängig von diesem konkreten Anlass finde ich das Thema sehr relevant.

Das Ziel des Buches wird direkt in der Buchumschlagsseite prägnant auf den Punkt gebracht:

Ziel des Buches

Meine Einschätzung nach dem Lesen ist, dass dieses Ziel ziemlich gut erreicht wird.

Sehr gut hat mir erstens gefallen, dass sich der gesamte Text fast schon wie ein Musterbeispiel für nicht-spaltende Inhalte liest: sehr engagiert und dabei gleichzeitig immer sehr komplexitätsbewusst, hinterfragend sowie ermutigend. Es gibt immer wieder konkrete Empfehlungen, die aber niemals als ‚fertige Lösung‘ dargestellt werden, sondern eher in der Art ‚Ich mache das aus diesen Gründen so und mache damit diese Erfahrungen‘. Zudem gibt es immer wieder Bezüge in die Wissenschaft. Wenn mehr Menschen so schreiben würden wie Ingrid Brodnig, wäre Verrohung wahrscheinlich längst nicht eine so große Herausforderung.

Zweitens stecken natürlich auch inhaltlich sehr viele kluge Gedanken in dem Buch. Bei mir sind vor allem die folgenden Aspekte hängen geblieben:

  1. Es ist sehr relevant, nicht nur ‚Faktenchecks‘ zu machen, sondern auch die verwendeten Mechanismen, die für eine tendenziell spaltende Veröffentlichung genutzt wurden, zu erklären. Zum Beispiel so etwas wie eine falsche Dichotomie (‚Es wird Entwicklungshilfe für Nigeria finanziert statt Krankenhäuser in Deutschland‘ -> Natürlich könnte man auch beides oder auch ganz andere Sachen finanzieren.).
  2. Der Kern von Spaltung und Verrohung ist oft ein Lagerdenken: ‚Wir gegen die anderen‘. Hier hilft es, auf lagerübergreifende Empathie zu setzen, also mehr auf das, was verbindet, als auf das, was trennt. Das ist dann die Grundlage, um überhaupt wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.
  3. Kama Muta ist ein aus dem Sanskrit stammender Begriff der ungefähr bezeichnet, dass man von etwas ergriffen oder gerührt ist. Dieses Gefühl wirkt ähnlich stark wie Wut, aber eben in eine sehr viel schönere Richtung. In politischen Debatten könnte man also verstärkt versuchen, auf Kama Muta zu orientieren.
  4. Wie Social Media Plattformen funktionieren, ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis von unternehmerischen Entscheidungen. Es wäre möglich, hier auch politisch klare Vorgaben/ Regeln zu setzen. Um das zu illustrieren kann man sehr gut vergleichend darstellen, dass beim Facebook-Algorithmus zum Beispiel vor allem die Interaktion für Verbreitung wichtig ist; bei TikTok dagegen die Verweildauer bei einem Video.
  5. Intellektuelle Demut und die Kompetenz des kritischen Denkens kann man für sich vor allem so entwickeln, dass man beim oberflächlichen Scrollen oder Surfen auf die eigene Emotionalität und das Gefühl der Bestätigung achtet. Tritt beides auf, kann es sehr hilfreich zu sein, noch einmal gezielt hinzuschauen und zu hinterfragen.

Die folgenden Ideen nehme ich ganz praktisch für mich mit:

  1. Mich mehr mit Menschen verbinden, die Spaltungsmechanismen erklären, um dafür selbst sensibler zu werden.
  2. Mir mal testweise LinkedIn mit der App One Sec für eine kurze Zeit vor der Öffnung sperren. (Bei One Sec handelt es sich um eine wissenschaftlich-fundierte App, die den ebenfalls wissenschaftlich-fundierten Suchtmechanismen, die von den anbietenden Unternehmen eingesetzt werden, gezielt etwas entgegen setzt.)
  3. Schon länger bemühe ich mich darum, mich bei Smartphone-Nutzung immer zunächst zu fragen: ‚Was will ich eigentlich genau tun?‘. Ingrid Brodnig ergänzt hier noch eine zweite Frage, die ich mir angewöhnen werde: ‚Könnte ich meine Zeit auch sinnvoller verbringen?‘

Nachtrag: Als Zitat nehme ich aus dem Buch mit:

„Wir können anderer Meinung sein und uns trotzdem gegenseitig lieben, es sei denn, deine andere Sichtweise basiert auf der Unterdrückung von mir und auf dem Abstreiten meiner Menschlichkeit und meinem Recht zu leben“

Robert Jones, Jr.


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Reaktionen im Fediverse
Eine Antwort
  1. @nele
    Danke!
    Ich glaube, ich lege mir das Buch zu!

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