Im EduBuchklub lesen wir diesen Monat das Buch „Bildung als Praxis der Freiheit“ von bell hooks. Sie bezieht sich darin auf die Befreiungspädagogik von Paulo Freire, der unter anderem den Begriff der „Bankiers-Erziehung“ als Beschreibung für schlechte Bildung geprägt hat. Ich finde diese Kritik an einer solchen Form von Bildung sehr hilfreich, um in der aktuellen Debatte über Künstliche Intelligenz die Frage zu beantworten: Wozu soll ich eigentlich noch lernen, wenn KI es besser kann?
Was ist eine Bankiers-Erziehung?
Mit Bankiers-Erziehung ist eine Sichtweise auf Bildung gemeint, die davon ausgeht, dass eine pädagogisch tätige Person Wissen in die Köpfe der Lernenden transferiert – so wie man Geld auf ein Konto einzahlen würde. In beiden Fällen wäre die Hoffnung, dass sich diese Wissens- bzw. Geldanlage irgendwann auszahlt.
Dieser Blick auf Bildung ist in zweierlei Hinsicht problematisch:
- Es wird davon ausgegangen, dass erlerntes Wissen den hauptsächlichen Zweck hat, direkt verwertbar zu sein.
- Lernen wird als passiver Prozess verstanden: Die Lernenden nehmen das Wissen lediglich auf.
Ist Lernen nutzlos, wenn man es nicht direkt verwertet?
Aus der Perspektive der Bankiers-Erziehung ist Lernen immer dann nutzlos, wenn es sich nicht unmittelbar verwerten lässt. Wir finden solch eine Kritik am Lernen aus Bankiers-Erziehungs-Perspektive häufig in öffentlichen Bildungsdebatten wieder: Menschen beklagen sich dort beispielsweise, dass sie ihre Schulzeit mit dem Lernen über die alten Ägypter vergeudet hätten, obwohl sie heute viel dringender wissen müssten, wie man eine Steuererklärung macht … Mit dem Aufkommen von generativer KI bekommt diese Perspektive neuen Rückenwind. Es wird immer häufiger die Frage gestellt: Wozu muss ich dies oder jenes noch lernen, wenn das doch auch ein generatives KI-Modell für mich erledigen kann?
Ich möchte aus meiner eigenen Bildungsbiografie drei sehr konkrete Beispiele für vermeintlich nutzloses Lernen nennen. Diese Beispiele können helfen, die Frage zu beantworten: War das Lernen wirklich so unnütz, wie es mit der Perspektive der Bankiers-Erziehung vielleicht scheint?
- Ich erinnere mich daran, dass ich in Mathe zur Vorbereitung auf das Abitur sehr viele Funktionen gerechnet habe. Das war immer etwas langwierig. Man musste sich so eine Funktion anschauen und dann sehr konzentriert rechnen. Am Ende hatte man sie gelöst. Ich schreibe das so vage, weil ich – obwohl ich damals sehr gut in Mathe war – heute keine Ahnung mehr habe, was ich da eigentlich genau gerechnet habe, wie so eine Funktion aussah und was der Sinn davon war. Ich brauche das weder in meinem Leben, noch in meiner Arbeit. Aus Bankiers-Erziehungs-Perspektive also völlig unnütz.
- Im Deutsch-Leistungskurs haben wir Gedichte von Rose Ausländer und Hilde Domin behandelt. Wir sprachen viel über Gedichte und lernten, wie man Gedichtinterpretationen schreibt. Am Ende konnte ich das sehr gut und wählte es als Thema im Abitur. Heute kann ich mich nicht mehr erinnern, welches Gedicht ich damals interpretiert habe und worauf ich achten musste. Wieder ein Beispiel für vermeintlich unnützes Lernen – zumindest aus der Sicht der Bankiers-Erziehung.
- Ein bisschen später habe ich an der Uni in meinem Erststudium interkulturelle Kommunikation und Islamwissenschaft in den Nebenfächern belegt. Im ersten Fach lernte ich Japanisch, im zweiten Fach Arabisch. Ich habe ziemlich viel Vokabeln und Grammatik gepaukt. In Japanisch kam noch dazu, dass es dort eine wirklich komplizierte Schrift gibt, zu der unter anderem auch aus China übernommene Schriftzeichen, die Kanjis, gehören. Ich habe somit also seitenweise Kanjis gezeichnet und gelernt. Heute habe ich beide Sprachen völlig vergessen und könnte mich nicht mal mehr vernünftig einer anderen Person in einer dieser Sprachen vorstellen. Auch könnte ich kein einziges Kanji mehr aus dem Kopf zeichnen. Ist das noch ein Beispiel für unnützes Lernen?
Wo liegt der tiefere Nutzen von Lernen?
Meine Auffassung ist, dass dieses und vieles weitere Lernen von mir in der Schule und an der Uni alles andere als unnütz war, auch wenn ich nichts mehr von meinen damals gelernten Inhalten heute ganz direkt ‚brauche‘. Erstens konnte ich das vorher nicht wissen. Das Lernen hat mir somit Perspektiven eröffnet, für oder gegen die ich mich bewusst entscheiden konnte. Zweitens hat das Lernen etwas mit mir gemacht, was mein Leben und damit mich geprägt hat und prägt.
- Ich erinnere mich an meine Freude beim Rechnen. Es war ein gutes Gefühl, sich systematisch an etwas ranzusetzen und dann Erfolg zu haben, weil ich die Aufgabe richtig löste. Das war damals für mich wichtig und ich habe damit auf lange Sicht gelernt, mir etwas zuzutrauen, etwas konzentriert anzugehen und an etwas dranzubleiben – auch wenn ich heute keine einzige Funktionsberechnung mehr kann.
- Ich erinnere mich, dass wir in meinem Mathe-Grundkurs sehr viel gemeinsam gerechnet haben und uns dazu auch Nachmittags trafen. Für viele war Mathe ein sehr angstbehaftetes Fach. Es war eine wichtige Erfahrung, dass wir uns gemeinsam halfen und am Ende gemeinsam durchs Abitur kamen.
- Auch wenn ich fast nichts mehr über Rose Ausländer und Hilde Domin weiß, so sind doch einzelne Bruchstücke in meinem Kopf geblieben. Manches Mal sind es nur kleine Satzfetzen, wie zum Beispiel: ‚Ich lebe in meinem Mutterland Wort‘. Ich verbinde damit bis heute, dass Sprache eine ganz wichtige Funktion haben kann, um sich auszudrücken, dass Sprache Freude machen und auch Schutz bieten kann. Das hat mich geprägt. Ich bin bis heute achtsam mit Sprache. Auch wenn ich keine Gedichtinterpretation mehr schreiben könnte.
- Ich habe Freude am Schreiben gefunden. Das war ein schrittweiser Prozess. In der Mittelstufe waren es noch einfachere Texte und Aufsätze oft mit Geschichten. Später kamen dann Texte zur Auseinandersetzung mit den Texten oder mit den Gedichten von anderen dazu. Ich erinnere mich gut daran, dass ich viel Freude hatte, in das Schreiben ganz einzutauchen und oft sehr lange und intensiv geschrieben habe. Diese Freude am Schreiben ist mir geblieben – auch wenn ich heute keine guten Gedichtinterpretationen mehr schreiben könnte.
- Ich hatte nach dem Grundstudium Glück, dass ich ein Stipendium für ein Jahr in Japan bekam. Direkt danach war ich für ein halbes Jahr in Syrien. Ich hatte einen Bezug zu den Ländern und vor allem zu den Menschen, weil ich die Sprache gelernt hatte und mich damals relativ flüssig auf Japanisch und Arabisch unterhalten konnte. Nichts davon bringt mir heute direkt irgend etwas ganz Konkretes und ich habe auch keine Kontakte mehr. Aber natürlich habe ich in dieser Zeit unwahrscheinlich viele Erfahrungen gesammelt. Ganz sicher wäre ich deshalb nicht so, wie ich heute bin, wenn ich diese Erfahrungen nicht gemacht hätte.
Meine Beispiele zeigen für mich somit, dass Bildung viel mehr ist, als nur unmittelbare Verwertbarkeit.
Müssen wir noch lernen, wenn Maschinen es besser können?
Als ich noch zur Schule ging und während meines Erststudiums an der Uni stellte sich gar nicht die Frage, ob Maschinen mein Lernen überflüssig machen könnten. Denn solche Maschinen, wie heute, die auf Knopfdruck Texte generieren oder in einer Fremdsprache für mich reden, gab es damals noch nicht bzw. sie waren mir nicht bekannt. Hätte es solche Maschinen damals schon gegeben, dann zeigt meine Reflexion über den tieferen Nutzen meiner Bildung, dass sie mein Lernen nicht hätten ersetzen bzw. überflüssig machen können. Überflüssig würde man Lernen nur dann einordnen, wenn das Lernen ausschließlich direkt verwertbar sein soll. Das wäre ein sehr maschinell geprägter Blick auf das Lernen und mindestens als einziger Blick nicht ausreichend.
Gutes Lernen – das zeigen meine Beispiele – erfüllt dagegen auch einen deutlich tieferen Nutzen:
- Gutes Lernen macht Freude und befähigt einen, weiter zu lernen und so weiter zu wachsen und sich zu entwickeln. Das ist ein wesentlicher Teil des Lebens.
- Gutes Lernen ermöglicht Resonanzerfahrungen, die prägend sind für uns als soziale Wesen und die Grundlage dafür, dass wir unsere Gesellschaft gemeinsam und im Interesse aller gestalten können.
- Gutes Lernen beinhaltet und ermöglicht Erfahrungen, die dann zu uns gehören und unser Handeln bestimmen. (Dazu gehört zum Beispiel auch unser Bauchgefühl, das durch ganz viele Lernerfahrungen entstanden ist und sich weiter entwickelt.)
Muss sich Bildung also gar nicht verändern?
Wenn man meine Beispiele und Schlussfolgerungen liest, könnte man meinen, dass sich an der Bildung nichts ändern muss. Doch dem möchte ich widersprechen – aus einem sehr wichtigen Grund:
Ich war als behütetes Lehrerkind eine super privilegierte Schülerin. Es fiel mir demzufolge leicht, mich in das schulische und später auch das universitäre Bildungssystem einzupassen. Das hatte viele für mich hilfreiche Folgen:
- Ich hatte immer gute bis sehr gute Noten. Meine Lernerfahrungen waren positiv, ich wurde nie beschämt.
- Ich konnte den oft sehr umfangreichen Unterrichtsstoff relativ schnell auswendig lernen und in den Prüfungen wiedergeben. So blieb mir genug Raum, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich interessierten und die ich aus eigenem Antrieb lernen wollte.
- Als Lehrerkind wurde ich an der Schule ernst genommen. Auch später an der Universität fühlte ich mich zugehörig und es fiel mir leicht, meine Meinung zu äußern. Immer wieder machte ich die Erfahrung, dass mir zugehört wird.
Heute weiß ich, dass solch eine privilegierte Bildungsbiografie eher die Ausnahme als die Regel ist. Und genau deshalb kann das Bildungssystem nicht so bleiben, wie es ist. Denn für viel zu viele Kinder und Jugendlichen, die nicht meine Privilegien haben, ermöglicht es eben kein gutes Lernen, sondern es ist beschämend, ausgrenzend, die Freude am Lernen nehmend, überfordernd und spaltend.
Es wäre jedoch überhaupt keine Lösung, die Bildung vor dem Hintergrund von KI noch stärker unter dem Blickwinkel einer Bankiers-Erziehung zu optimieren. So würden wir in Konkurrenz zu Maschinen treten, statt den Fokus darauf zu legen, was uns als Menschen ausmacht. Anstatt im Kontext der KI-Debatte deshalb Bildung aus der Perspektive einer Bankiers-Erziehung neu zu denken und in diesem Sinne die Frage zu stellen, welche Einzahlungen sich in einer KI-geprägten Welt noch auszahlen, sollten wir die KI-Debatte viemehr nutzen, um den Blick auf den tieferen, nicht maschinell geprägten Nutzen von Bildung lenken.
Veränderte Bildung kann und sollte dann mehr Raum für gutes Lernen ermöglichen:
- Mehr Raum, um Freude am Lernen zu fördern, zu erhalten und in diesem Sinne immer auch das Lernen selbst zu lernen.
- Mehr Raum, um Kindern und Jugendlichen das Wort zu geben.
- Mehr Raum, um eigenen Fragen nachzugehen und zu ihnen zu forschen.
- Mehr Raum, um gemeinsam zu lernen und gemeinsam zu wachsen.
- Mehr Raum für Beziehungsarbeit, damit alle ernst genommen werden, für das Zuhören und für Empathie.
- Mehr Raum für Begeisterung und Staunen über die Wunder unserer Erde 🙂
Fazit
Das war ein von meiner eigenen Bildungsbiographie geprägter Blick auf die Frage, was wir eigentlich noch lernen sollten, wenn Maschinen so vieles besser können. Ich bin neugierig, auch deine Antwort auf diese Frage zu lesen.
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