Aha-Effekt: Angenommene Fremdbestimmung bei der Mediennutzung ist eher vorgefertigte Haltung als empirische Evidenz

Ich bin in meinem Denken zu (medien-)pädagogischen Herausforderungen im Kontext der Digitalisierung etwas weitergekommen und möchte meinen ‚Aha-Effekt‘ in diesem Blogbeitrag gerne festhalten. Zum einen, um ihn für mich selbst zu dokumentieren und zu schärfen – und zum anderen auch, um ihn zu teilen. Darüber hinaus möchte ich weiter darüber nachdenken, welche Schlussfolgerungen daraus für ein kluges medienpädagogisches Handeln gezogen werden können. Vielleicht kann das auch für andere hilfreich sein.

Worum geht es?

Ich habe gestern eher zufällig zwei Texte gelesen. Sie wurden, soweit ich das beurteilen kann, unabhängig voneinander verfasst. Ich habe sie jedoch für mich miteinander verknüpft:

  1. Im Blogbeitrag ‚Das Problem an »Bauchgefühl«-Medienpädagogik‚ stellt Philippe Probleme einer Medienpädagogik dar, bei der Pädagog*innen Mediennutzung mit vorgefertigten Haltungen betrachten (u.a. Kulturpessimismus, Adultismus, Verbote …) und schlägt Alternativen vor.
  2. In der Kolumne ‚Smartphonesucht‘ in der aktuellen Zeitschrift Pädagogik, gibt Jöran einen Text zu ‚Lesesucht‘ aus dem 19. Jahrhundert wieder, in dem er die Begriffe Lesesucht durch Smartphonesucht ersetzt (und daraus resultierende weitere notwendige Ersetzungen vornimmt).

Die in der Kolumne von Jöran vorgenommene Verbindung von ‚Lesesucht‘ und ‚Smartphonesucht‘ war mir bereits mehrfach in pädagogischen Digitalisierungskontexten begegnet. Ich hatte dies bisher eher ambivalent betrachtet. Denn die Verknüpfung transportiert zwar eine aus meiner Sicht richtige Kritik an einer ‚Bewahrpädagogik‘, am Kulturpessimismus (‚Die Jugend von heute wird immer schlimmer!‘) und an fehlender Selbstermächtigung von Lernenden. Auf der anderen Seite war ich jedoch der Meinung, dass der Raum für ‚Mündigkeit‘ angesichts der aktuellen technologischen Entwicklungen und der vorherrschenden Plattform-Geschäftsmodelle im Internet tatsächlich begrenzt ist. Daher erschien mir die Verbindung zu einfach. (Genau das habe ich auch im Fediverse zur Diskussion gestellt)

Was ich jedoch durch die gleichzeitige Rezeption der beiden Texte in meinem Kopf feststellte, war Folgendes: Meine Annahme, dass die Mediennutzung heutzutage zunehmend fremdgesteuert ist und digitale Mündigkeit kaum möglich ist, ist im Kern nichts anderes als eine ‚vorgefertigte Haltung‘ und damit im Prinzip genau das, was mit dem Begriff der ‚Bauchgefühl-Medienpädagogik‘ zu Recht kritisiert wird. Der Schlüsselsatz, der mir dabei half, das zu erkennen, war Philippes Darstellung zum Kulturpessimismus:

„Das Bauchgefühl führt oft dazu, den Eindruck zu gewinnen, ein Problem sei heute so ausgeprägt wie noch nie in der Vergangenheit. In Bezug auf Kultur stimmt das praktisch nie. Oft entstehen Kompetenzen und gemeinschaftliche Praktiken, wenn Phänomene häufiger auftauchen; Menschen entwickeln Filter und Bewältigungsstrategien. Sie werden bei Belastungen in einem Bereich in anderen Bereichen entlastet.“

Übersetzt auf meine Annahme: Ja, es kann gut sein, dass der Rahmen, der für die Mediennutzung zur Verfügung steht, ein sehr anderer und vielleicht sogar, gesamtgesellschaftlich betrachtet, ein schlechterer oder eingeschränkter ist als früher. Unabhängig von dieser Einschätzung muss die primäre medienpädagogische Frage jedoch sein, wie Menschen in diesem Rahmen agieren. Da sich Filter und Bewältigungsstrategien entwickeln, können Menschen durchaus einen mündigen Umgang haben – sie können zum Beispiel trotz allem für sich filtern, was für sie relevant ist und was nicht.

(In der Fediverse-Diskussion fand ich in diesem Sinne das Reframing meiner Bedenken hilfreich: Ist der Raum für Mündigkeit begrenzter oder sind die Anforderungen an Mündigkeit und ihre Erhaltung größer?)

Was sind Erfahrungswerte, die eine optimistische Sichtweise unterstützen?

Beim Niederschreiben meiner Überlegungen kamen mir zwei Beobachtungen und eine weitere Lektüre der letzten Wochen in den Sinn, die eine solche ‚kulturoptimistische‘ Sichtweise unterstützen:

  1. Die aktuellen ‚KI‘-Tools sind für sich betrachtet traurige Beispiele für fehlende Offenheit, Transparenz und Selbstbestimmung in der technologischen Entwicklung. Was Menschen jedoch konkret damit machen, ist in sehr vielen Fällen sehr cool und sehr selbstbestimmt. Dies lässt sich unter anderem am Bildgenerierungstool Midjourney beobachten, wo sich die geballte Kreativität von internetaffinen Menschen entfaltet. (Ich habe dazu hier gebloggt.)
  2. Ebenfalls bei der Nutzung von ‚KI‘-Tools, in diesem Fall aber bei der Nutzung von Sprachmodellen, lässt sich sehr gut beobachten, wie sich lernende Menschen diesen Tools nähern, wenn sie den Raum dazu bekommen: Ich habe in den letzten Wochen viele Menschen (jüngere und ältere) dabei beobachtet, wie sie das erste Mal mit ChatGPT chatten. Und fast immer wurde ein Thema zum Chatten ausgewählt, das man selbst einschätzen kann. Wer sich für vegane Ernährung interessiert, testet Rezeptvorschläge, wer Minecraft spielt, fragt nach Spielstrategien, wer pädagogisch tätig ist, fragt nach methodischen Ideen… In diesem Kontext kommt es eigentlich nur dann zu der Situation, dass Menschen das Tool nicht einschätzen können oder auf Output-Unsinn hereinfallen, wenn sie durch fremdbestimmte Anforderungen dazu gebracht werden, Eingaben zu machen, mit dem sie selbst wenig anfangen können.
  3. Aus der Perspektive eines Elternteils fand ich das Buch ‚Screen Teens‘ von Jessica hilfreich. In Bezug auf Computerspielsucht regt sie dazu an, zu reflektieren, ob man vielleicht einfach mit dem Hobby seines Kindes wenig anfangen kann – oder ob man sich berechtigte Sorgen macht. Ihr Beispiel zur Verdeutlichung ist die Frage: Wenn ein Kind jeden Tag Fußballspielen geht, sind wir dann auch besorgt, dass es Fußballsucht entwickelt – genau so wie wir es vielleicht sind, wenn es sich jeden Tag mit Freunden zum Minecraft-Zocken verabredet?

Was ist zugleich (oder gerade deshalb) auch wichtig?

Mit diesem Aha-Effekt im Kopf finde ich es einfacher, einen Kompass für medienpädagogisches Handeln zu entwickeln. Die Vorschläge, die Philippe in seinem Text aufführt (Mit verschiedenen Gruppen von Kindern und Jugendlichen offen sprechen, Maßnahmen mit Betroffenen evaluieren, Daten erheben oder studieren sowie Unfälle, Extremfälle und eigenes Erleben reflektieren.) finde ich sinnvoll. Vor dem Hintergrund meiner Überlegungen finde ich zusätzlich auch diese drei Aspekte wichtig:

1. Reflexion der eigenen Rolle als ‚lernende Lehrende‘:

Bei technologischen Entwicklungen (gerade, wenn sie relativ schnell passieren) befinden wir uns als Pädagog*innen in der Situation, dass wir uns selbst noch in der ‚Ausprobier- und Entdeckungsphase‘ befinden, uns aber gleichzeitig auch in der Verantwortung sehen, zu erklären, einzuordnen und zu unterstützen. Ein gutes und selbstbewusstes Vorgehen in dieser Situation zu finden, ist nicht einfach. Aber sich diese Herausforderung einzugestehen, kann schon ein erster wichtiger Schritt sein. (Ich finde den schon viele Jahrzehnte alten Text ‚Verlasst die Übungsräume‘ von Célestin Freinet dazu einen sehr guten Denkanstoß zur Notwendigkeit von Lernendenorientierung, eigenen Erfahrungen und pädagogisch kluger Zurückhaltung, wo nötig).

2. Verstärkerthese

Die Verstärkerthese besagt, dass Digitalisierung in vielen Bereichen als großer Verstärker wirkt. Beispiel: Wer isoliert und einsam ist, kann durch Mediennutzung noch isolierter und einsamer werden. Wer sozial aufgeschlossen und kontaktfreudig ist, kann sich durch Mediennutzung dagegen noch besser und vielfältiger vernetzen.

Wenn man diese These teilt, dann muss man anerkennen, dass nicht in erster Linie die Mediennutzung das Problem ist, sondern Strukturen, die diskriminieren und Menschen ‚kaputt‘ machen, so dass sie dann durch Mediennutzung noch mehr benachteiligt werden können. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass es nur Symptombehandlung ist, wenn die Mediennutzung isoliert betrachtet wird. Wichtiger ist es, die Ursachen, d.h. die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen, in den Blick zu nehmen und zu verändern.

3. Gesellschaftliche Handlungsfähigkeit als Leitbild guter Bildung

Ich halte es für sehr wichtig, medienpädagogisch nicht bei einer ‚Anpassung‘ der Menschen an technologische Entwicklungen stehen zu bleiben. Das würde bedeuten, Menschen lediglich ‚fit zu machen‘ (oder sich selbst anpassen zu lassen) an die technologische Entwicklung – anstatt in erster Linie darauf zu fokussieren, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und damit auch technologische Entwicklungen als menschengemacht und damit gestaltbar zu erleben. In diesem Sinne muss das Ziel einer emanzipatorischen Medienpädagogik immer auch sein, Menschen zu befähigen, technologische Entwicklungen mitzugestalten und wo nötig zu hinterfragen und zu verändern. Eine solche Medienpädagogik benötigt neben weniger Bauchgefühl auch einen stärkeren politischen Anspruch: Es gilt gemeinsam, Freiräume im Internet zu erhalten und auszubauen und selbstbestimmte Gestaltung erfahrbar zu machen. Das ist dann aber ein sehr anderer Ansatz, als mediennutzenden Menschen von vorneherein ihre Selbstbestimmung abzusprechen.


Beitragsbild: Von Midjourney gestaltetes Bild zu fremdbestimmter Mediennutzung von Kindern.


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