Lernen gestalten im Spannungsfeld der Digitalisierung

Bei der Veranstaltung Bildung ist nachhaltig im Bildungshaus Riesenklein in der vergangenen Woche habe ich einen Workshop zur Frage angeboten: Wie gestalten wir nachhaltige Lernprozesse in einer digitalisierten Gesellschaft? Meine gedankliche Klammer bei der Vorbereitung und Durchführung war die Kunst des ‚Sowohl als auch‘-Denkens. Was ich damit genau meine, wie auf dieser Grundlage gute Bildung vor dem Hintergrund der Herausforderung der Digitalisierung gestaltet werden kann und was Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) damit zu tun hat, erkläre ich in diesem Blogbeitrag. Er kann Dir vielleicht helfen, wenn Du für Dich selbst als Pädagog*in im digitalen Wandel Orientierung suchst und/ oder wenn Du Beratschlagungen zu Strategieentwicklung im Bildungskontext mit anderen gestaltest.

Tauziehen überwinden: Widersprüche aushalten!

Faszinierend und zugleich schwierig an der Digitalisierung ist, dass wir es dabei mit einem durch und durch widersprüchlichen Prozess zu tun haben.

Plakativ ausgedrückt bedeutet das:

  • Digitalisierung ist toll, hat viele Potentiale und bringt gesellschaftliche Entwicklung voran.
  • Digitalisierung ist profitgetrieben und verschlechtert die Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler Menschen.

Widersprüchlich ist die Digitalisierung deshalb, weil nicht mal die eine und mal die andere Aussage richtig ist, sondern weil eigentlich fast immer beide Aussagen gleichermaßen stimmen bzw. sich für beide Aussagen Tendenzen und Beispiele finden lassen.

Leider agieren wir Menschen bei widersprüchlichen Prozessen aber oft in der Form, dass wir uns entweder auf die eine oder auf die andere Seite schlagen. Wir beziehen also Position: Entweder finden wir Digitalisierung (zumindest überwiegend) toll. Oder wir finden Digitalisierung tendenziell gefährlich oder schlecht. Von unserer eingenommene Position versuchen wir dann, auch andere zu überzeugen.

In Workshops lässt sich das mit einem einfachen Experiment verdeutlichen:

Ich drucke die beiden obigen Aussagen zu Digitalisierung aus und lege sie an die beiden Seiten des Raumes. Jede Person soll sich nun auf die Seite stellen, deren Aussage sie mehr zustimmt.

Um zu zeigen, wie wir dann oft agieren, bekommt jede Gruppe die Enden eines Seils und es wird Tauziehen gespielt. Wie das ausgeht, kannnst Du Dir sicherlich leicht vorstellen:

  • Eine der beiden Gruppen purzelt um (oder das Seil reißt und beide Gruppen trifft es).
  • Beide Gruppen sind ungefähr gleich stark – und blockieren sich gegenseitig.

Beides ist nicht sinnvoll und somit wird offensichtlich: Wer Digitalisierung (oder auch jede andere tendenziell widersprüchliche Herausforderung) gestalten will, muss ‚Entweder-Oder‘-Denken überwinden. Stattdessen müssen wir lernen, Widersprüche auszuhalten. Dabei hilft uns Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE).

Dreieck der Nachhaltigkeit: Gestaltungskompetenz in der Komplexität!

Zu den Grundlagen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gehört das Dreieck der Nachhaltigkeit. Es handelt sich dabei um ein gleichschenkliges Dreieck, dessen drei Ecken durch die Begriffe Umwelt, Soziales und Wirtschaft gekennzeichnet sind. Die Idee dahinter ist, dass sich nachhaltige Entwicklung nur dann voranbringen lässt, wenn man alle drei Ecken berücksichtigt:

(Manche gestalten das Dreieck der Nachhaltigkeit auch als Viereck der Nachhaltigkeit oder mit anderen als hier von mir in der vorherrschenden Form genutzten Begriffen – z.B. mit Kultur/ Politik statt mit Wirtschaft. Das ist in unserem Zusammenhang aber nicht entscheidend).

Wenn wir das Dreieck der Nachhaltigeit vor dem Hintergrund des obigen ‚Tauziehens‘ betrachten, erkennen wir, dass das Tauziehen damit überwunden werden kann. Denn es wird nicht eine Komponente über die andere gestellt. Stattdessen ist das Dreieck ein Spannungsfeld, in dem unter Berücksichtigung der Widersprüchlichkeiten gestaltet werden kann. Diese integrierende Herangehensweise an widersprüchliche Herausforderungen ist der erste Punkt, den wir von BNE lernen können.

Damit es aber zu dieser Gestaltung kommt , braucht es zusätzlich noch einen Antrieb in Form eines Leitbildes. Auch dabei hilft uns BNE.

Leitbild: Gutes Leben für alle!

Beim Leitbild der nachhaltigen Entwicklung geht es im Alltagsverständnis darum, dass unsere Welt erhalten bleibt. Wir sollen also nicht auf Kosten von zukünftigen Generationen leben. Zugleich sollen wir Interessen von jetzt lebenden Menschen berücksichtigen. Wenn wir das Dreieck für Nachhaltige Entwicklung in den Blick nehmen, bedeutet das: Eine Maßnahme wäre nicht im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, wenn sie zwar sozialen Ausgleich befördert, aber zugleich auf Kosten der Umwelt geht. Stattdessen wäre es nachhaltig, Maßnahmen zu entwickeln, die sowohl sozial als auch ökologisch sind. Ein gutes, aktuelles Beispiel hierfür ist das 9-Euro-Ticket.

In einem breiteren Kontext meint Nachhaltigkeit aber noch mehr: Es geht darum, sich für ein gutes Leben für alle einzusetzen – heute und in Zukunft. Diese Perspektive bietet aus meiner Sicht einen wunderbaren Rahmen auch für Bildung – und ist der zweite Punkt, den wir von BNE lernen können. Gute Bildung ist dann alles Lernen, was es Lernenden ermöglicht sich gestaltend in die Gesellschaft einzubringen – hin zu einem guten Leben für alle. Oder anders ausgedrückt: Das Ziel guter Bildung ist die Entwicklung von Gestaltungskompetenz für ein gutes Leben für alle.

Und was bedeutet das dann für die Digitalisierung in der Bildung?

Wie dargestellt ist auch die Digitalisierung – genau wie nachhaltige Entwicklung – ein komplexer und widersprüchlicher Prozess. Das merken wir in der Bildung an den verschiedensten Stellen:

  • In Bezug auf die Hardware ist eine bessere digitale Ausstattung für Schulen und andere Bildungsinstitiutionen unerlässlich. Zugleich braucht es mehr Nachhaltigkeit von Technik in der Bildung.
  • In Bezug auf die Software brauchen Lernende und Lehrende gut funktionierende, digitale Lernräume. Zugleich sollten Lernende und Lehrende ihre digitalen Lernräume für sich gestalten können.
  • In Bezug auf die Medienpraxis sollten digitale Geräte selbstverständlicher Bestandteil von Lernprozessen sein. Zugleich sollten Abschalten und resiliente Mediennutzung wichtige Lerninhalte sein.
  • In Bezug auf die Pädagogik ist es wichtig, aktives Medienhandeln von Lernenden zu ermöglichen und zu unterstützen. Zugleich ist es wichtig, mit Lernenden über die Grenzen von Selbstbestimmtheit im Internet zu reflektieren.

Mithilfe der dargestellten ‚Sowohl als auch‘-Denkweise von Bildung für Nachhaltiger Entwicklung können wir angesichts dieser widersprüchlich anmutenden Herausforderungen in eine gestaltende Rolle kommen. Denn wir müssen dann nicht Energie darauf verschwenden, uns zu positionieren und andere von unserer Position zu überzeugen. Sondern wir haben gelernt, dass wir in der Widersprüchlichkeit gestalten können.

Als Antrieb zur Gestaltung müssen wir uns auf ein gemeinsames Leitbild einigen. Wenn wir das BNE-Leitbild wählen, dann bedeutet das: Wir wollen Lernende befähigen, für ein gutes Leben für alle einzutreten. Auf dieser Grundlage können wir uns dann gestaltend auf den Weg machen, Herausforderungen wie die der Digitalisierung zu bewältigen.

Ist damit dann alles Friede-Freude-Eierkuchen?

Das ist eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet: Natürlich nicht! Es kann und sollte Streit geben.

Für mich kann ich sagen, dass ich in meinen Aktivitäten für gute Bildung zum einen sehr vehement für das Leitbild ‚Gestaltungskompetenz für ein gutes Leben für alle‘ streite. Und damit dann auch sehr vehement dafür, dass Digitalisierung von uns Menschen gemacht und damit auch zukünftig gestaltbar ist. (Ich habe dieses Leitbild in diesem Blogbeitrag fast schon als gegeben dargestellt, weil ich mir tatsächlich kein wichtigeres oder richtigeres Leitbild für die Bildung vorstellen kann.)

Zum anderen setze ich mich sehr vehement dafür ein, dass es in der Pädagogik eine Offenheit zum Erkunden gibt. Das ist wichtig, um überhaupt Fragen stellen und unterschiedliche Antworten erproben zu können. Dabei wird immer wieder vieles schief gehen – und einiges wird sich als völliger Irrweg herausstellen. Wenn wir aber darauf verzichten, werden wir nichts Neues lernen – und somit nicht in eine gestaltende Rolle kommen.

In beiden Bereichen finde ich es sehr sinnvoll (und voranbringend), mich zu streiten. In jedem Fall deutlich sinnvoller als darüber, ob Digitalisierung nun gut oder böse ist (oder ob Schüler*innen eher aktive Mediennutzung oder kritische Medienreflexion lernen sollten, oder ob wir mehr Tablets oder mehr nachhaltige Technik brauchen …). Denn letzteres ist wie dargestellt ein Spannungsfeld, bei dem Widersprüche nicht durch einseitige Positionierung aufgelöst werden können.

Und was bedeutet das konkret?

Im Workshop im Riesenklein haben wir zu den widersprüchlichen Herausforderungen im Kontext der Digitalisierung jeweils mehrere mögliche Bausteine diskutiert. Du kannst sie dir hier ansehen. Wichtig ist: Das sind keine fertigen oder abschließenden Antworten, sondern Einladungen zum Erkunden und zum Ergänzen.

Ich wünsche Dir dabei viel Freude und produktives Lernen mit vielfältigen Perspektiven! Mitdiskutieren kannst Du unter diesem Tweet oder hier im Fediverse.

PS. Das für den Beitrag verwendete Bild des Tauziehens ist Public Domain. Ich habe es auf der Plattform Picryl gefunden. Diese verfolgt einen spannenden Ansatz zur Kuratierung: Im Gegenzug dafür, dass ich das Bild herunterladen darf, soll ich mich an der Auswahl relevanter Schlagworte beteiligen – um so die Auffindbarkeit für zukünftige Nutzer*innen zu verbessern.


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